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Miriam Witz
Foto: André Gehrmann

„Das Gefühl, dass wir den Krisen hinterherjagen“

26. März 2024

Teil 3: Interview – Miriam Witz von Mein Grundeinkommen e.V. über Existenzängste und Umverteilung

trailer: Frau Witz, über die Idee eine Grundeinkommens wird seit langem kontrovers diskutiert. Was ist der Ansatz des Vereins Mein Grundeinkommen?

Miriam Witz: Was uns von anderen Initiativen unterscheidet ist, dass wir durch Spenden finanzierte Grundeinkommen an einzelne Personen, die sich dafür bewerben, verlosen. Wir versuchen es in die Praxis zu übersetzen, damit es erfahrbar wird, versuchen quasi die Theorie in die Realität zu holen. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht: Wenn man fünf Leute nach dem Grundeinkommen fragt, haben alle unterschiedliche Vorstellung von dem Prozess dahinter. Deswegen verlosen wir seit letztem Jahr auch ein „realistisches“ Grundeinkommen – in den vergangenen zehn Jahren hatten wir ein „utopisches“ Grundeinkommen verlost, bei dem wir einfach jeden Monat 1000 Euro zahlen. Daraus haben wir viel gelernt, was die Maximalwirkung dieser utopischen Variante des Grundeinkommens ausmacht. Jetzt aber simulieren wir eine Steuer, die auch in der echten Welt mit einem Grundeinkommen gezahlt werden müsste. Dieses realistische Grundeinkommen kann man für drei Jahre gewinnen.

Fast alle Menschen haben heutzutage Existenzangst“

Sind Existenzängste ein motivierender Faktor, bei den Bewerbern und bei den Vereinsmitgliedern?

Das ist natürlich ein sehr breiter Begriff. Ich schätze mal, fast alle Menschen haben heutzutage in dieser Gesellschaft irgendeine Art von Existenzangst, die Frage ist eben, wie existenziell ist diese wirklich. Wir hören aber schon viele Geschichten von Menschen, die große Existenzängste haben – ich würde sagen, wir bekommen ganz nah mit, wie sich die Vermögens- und Einkommensungleichheit, die wir in Deutschland haben, praktisch auf die Leben der Menschen auswirkt. Wir bekommen sehr viele Zuschriften, in denen es sehr stark um die Frage geht „Was kann ich mit meinem Leben machen?“ oder „wo kann ich in meinem Leben hin?“. Vor allem wenn es um den sogenannten sozialen Abstieg geht, sind es krasse Bilder, die da gezeichnet werden – was ist Existenzangst, was ist Abstiegsangst, was ist sozial schwach? Diese ganzen Begriffe sind natürlich sehr vorgeprägt. Innerhalb unseres Vereins ist es gemischt, würde ich sagen. Es gibt natürlich Engagierte, die sich aus einer privilegierteren Position heraus damit auseinandersetzen, aber motivierend ist für uns vor allem die Sorge um Gesellschaft an sich: Was es mit den Menschen macht, dass man eher darauf hofft, irgendwie so durchzukommen und einer neoliberal gefassten Vorstellung von „Na ja, solange es anderen noch schlechter geht als mir, geht’s mir besser“, verhaftet ist. Wir erleben bei vielen Menschen, die bei uns mitmachen oder spenden – wir haben eben auch einen sehr großen Spenderpool – eine große Zugewandtheit und eine Hoffnung auf eine Gesellschaft, die sich gegenseitig unterstützt und vertrauen kann, was heutzutage ja schon ein „linksradikaler“ Ansatz ist. Man muss aber auch sagen, dass zwei Millionen Menschen bei uns registriert sind, da ist es sehr schwer, allgemeingültige Aussagen zu treffen.

Eine Umverteilung von Vermögen ist in Deutschland essenziell“

Pandemie, Krieg in Europa, steigende Lebenshaltungskosten – die Entwicklungen könnte man als Treiber für Existenzängste sehen.

Mit Sicherheit zeigt uns diese „Polykrise“ auch unsere Abhängigkeiten auf, die wir in einer sehr arbeitsteiligen Gesellschaft haben. Wenn diese Arbeitsteilung nicht mehr funktioniert, oder schlechter funktioniert, steigt damit natürlich die Angst. Warum ich in dem Zusammenhang das Grundeinkommen so spannend finde, ist das Gefühl, dass wir den Krisen eher hinterherjagen. Wenn es eine Flutkatastrophe gibt, fällt uns auf, dass wir uns ganz dringend um das Klima kümmern müssen. Erscheint eine Recherche zur AfD, wird uns plötzlich bewusst, dass es, oh Wunder, immer noch Nazis in Deutschland gibt – na gut, kümmern wir uns darum. Das Grundeinkommen ist eigentlich ein Instrument der Umverteilung, und eine Umverteilung von Vermögen ist in Deutschland essenziell, um diesen Krisen nachhaltiger zu begegnen, am besten sogar bevor sie entstehen. Man kann natürlich darüber reden, wie es tatsächlich wirkt, aber das Instrument selbst setzt erstmal auf einer Steuerebene an und führt dazu, dass umverteilt wird. Dieses Instrument entsteht aus der Überlegung, vorher anzusetzen und nicht eine Sache nach der anderen zu „fixen“, weil ich glaube, dass wir auf der systemischen Ebene daran gehen müssen, angesichts der Herausforderungen, vor denen wir in so vielen Bereichen stehen.

Wenn ich ständig überlege, wo ich noch sparen kann, treffe ich schlechtere Entscheidungen“

Wie wird das Konzept vor diesem Hintergrund wahrgenommen?

Grundeinkommen ist ohnehin ein Thema, das starke Meinungen hervorbringt, man ist entweder sehr dafür, oder sehr dagegen. Es ist eine sehr polarisierte Debatte, was wohl den Zustand vieler Debatten widerspiegelt, in denen wir uns befinden, etwa in puncto Steuergerechtigkeit. Friedrich Merz zum Beispiel hat im vergangenen Jahr in der Debatte ums Bürgergeld immer wieder gesagt „am Ende landen wir noch beim Grundeinkommen!“. Ich finde es sehr bemerkenswert, wie es Politiker wie er schaffen den Menschen auszureden, dass sie ein Anrecht auf einen fürsorgenden Staat haben, für den sie schließlich auch bezahlen. Das kommt für mich oft beim Thema Grundeinkommen zu kurz: Wir zahlen alle Steuern, in Angestelltenverhältnissen wahrscheinlich im Verhältnis mehr als die sehr reichen Menschen in Deutschland, die ihr Kapital in ihren Unternehmen haben und darauf sehr viel weniger Steuern zahlen. Wenn ich aber Angst habe, Hilfe in Anspruch zu nehmen, tu ich es nicht, obwohl das ja eigentlich der Vertrag ist, den ich mit diesem Staat habe – dass ich, wenn ich mal Hilfe brauche, egal aus welcher Position, diese auch in Anspruch nehmen kann. Das schieben wir dann gerne an die sogenannten sozialen Ränder, daran sieht man, wie diese Angst konstruiert wird. Das sehen wir bei uns stark. Während der Pandemie hat das Thema Grundeinkommen einen riesigen Zulauf gehabt, weil man da gesehen hat, dass der Staat ja bedingungslos Hilfe leisten kann, wenn er denn will. Seitdem ist es wieder etwas abgeflacht, aber wir versuchen es uns unter diesem Umverteilungsaspekt anzuschauen – bei wem entstehen als erstes diese Existenzängste, wer verliert ökonomisch zuerst?

Wer verliert ökonomisch zuerst?“

Ein höherer Mindestlohn, Bürgergeld statt Hartz IV – was bringen solche Ansätze?

Ich glaube, alles hilft. Ich würde auch nicht sagen, dass es sich gegenseitig ausschließt. Ich persönlich denke, dass das Grundeinkommen im Zweifel auch einen Mindestlohn manifestieren würde. Es ist natürlich wahr: Bleibt der Lohn unter einem gewissen Betrag, lohnt es sich mit Grundeinkommen nicht mehr zu arbeiten. Aber dieser Mindestbetrag muss dann eben gezahlt werden. Ich glaube, das sind zwei Instrumente, die sich gegenseitig begünstigen würden. Beim Bürgergeld wurden die ersten Pläne, die Sanktionen herauszunehmen, ziemlich abgeschliffen und wir sehen, dass die Scham und die Vorurteile rund um dieses Thema noch so beherrschend sind, dass es kein nachhaltiges Instrument sein kann. Warum es im Einzelnen nicht funktioniert, ist immer ein wenig müßig, denn wir haben ja schon angesprochen, diese Krisen sind so groß, dass sie die systemische Ebene betreffen und wenn wir, wie wir es bei Covid gesehen haben, nicht dagegen abgesichert sind, sind ganze Branchen sehr schnell einfach lahmgelegt. In diesem Fall war es eine Pandemie, jetzt ist es die künstliche Intelligenz und die Digitalisierung, die uns überrollen. Ich weiß nicht, wie wir um eine gesamtgesellschaftliche Grundsicherung herumkommen wollen, wenn wir irgendwie durch die Entwicklungen navigieren wollen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen. Wir brauchen Ansätze, die diesem Grundproblem systemischer entgegentreten, oder sie abfedern, bevor sie überhaupt entstehen. Wenn ich meinen Job verliere, oder so wenig verdiene, dass ich ständig überlegen muss, wo ich noch sparen kann, dann treffe ich kurzfristigere und schlechtere Entscheidungen, die schlechter für mich und auch für die Menschen um mich herum und für die Gesellschaft sind. Diese Effekte, die auftreten, wenn ich dauerhaft in Existenzangst lebe und wirtschaften muss, sind schon relativ gut nachgewiesen. Das ist individuell schlecht, das ist auch für uns als Gesellschaft nicht gut. Da ist das Grundeinkommen natürlich auch nur eine Maßnahme von vielen. Ich habe mich vor ein paar Jahren mit der Klima-Thematik auseinandergesetzt und habe mir bewusst gemacht: Wir müssen wirklich in allen Sektoren soviel umstellen und anders machen, es sind so viele Schrauben, an denen man drehen muss, dass das Grundeinkommen eine solche Schraube sein kann – eine sehr große, aber eben auch nur eine. Ich bin sehr für den Mindestlohn, aber ich glaube, diese Werkzeuge können zusammen existieren.

Viele Menschen verdienen mit Arbeit so wenig, dass es sich nicht lohnt – und tun es trotzdem“

In der Diskussion um das Bürgergeld zeigt sich, dass manche Politiker offenbar Existenzangst für unverzichtbar halten, um Menschen zur Arbeit zu motivieren. Sind Existenzängste also politisch gewollt?

Ich glaube, im Fall von Friedrich Merz auf jeden Fall. Es gibt einen nicht so kleinen Anteil von Politiker:innen, die fest davon ausgehen, dass wenn man Menschen nicht in eine Arbeit zwingt, diese auch nicht arbeiten. Deswegen aktivieren sie politisch eine Art Existenzangst, damit diese Menschen in Arbeitsverhältnissen verharren, die sie nicht glücklich machen, oder nicht zu ihnen passen. Ich finde es manchmal schon pervers, was aus dieser Debatte gemacht wird, etwa durch diesen Slogan „Arbeit muss sich lohnen“. Was bei der Bürgergeld-Debatte ganz oft untergeht, ist: Viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, arbeiten bereits, verdienen aber mit ihrer Arbeit so wenig, dass es sich im Grunde nicht lohnt – und sie tun es trotzdem! Ich glaube es geht tatsächlich darum, größere soziale Sicherungssysteme, für die wir eigentlich bezahlen, zu verhindern. Wir sprechen auch immer nur über Lohnarbeit – ganz viel der Arbeit, die in dieser Gesellschaft geleistet wird, wird gar nicht erst bezahlt.

Das Bild des arbeitsscheuen Menschen ist oft bemüht worden, in den 90ern in der Debatte um Sozialhilfe, dann um Hartz IV oder jetzt ums Bürgergeld.

Das ist natürlich traurig zu hören. Natürlich gibt es die Menschen, die nicht arbeiten wollen, aber wie viele sind das wirklich? Da werden ein paar Fälle medial gepusht, aber wenn wir uns ansehen, was Menschen in dieser Gesellschaft machen, dann ist das für andere und mit anderen zu arbeiten. Aber scheinbar verfängt es auch. Wenn ich mit Menschen über das Grundeinkommen spreche, kommen ganz oft Argumente wie: Dann hören die Leute ja auf zu arbeiten und fangen an Drogen zu nehmen und ähnliches. Die Vorstellungen darüber, was man so macht, wenn man Zeit und Geld hat, gehen wirklich ins Absurde. Ich frage dann ganz oft, „also, sie würden das so machen“? Das wird dann natürlich verneint – nein, sie selbst würden natürlich weiterhin arbeiten, sie würden ihre Arbeit ja mögen. Es scheint da eine sehr diffuse Angst zu geben, die durch ein Bild aufgebaut wird, das von Parteien wie CDU und FDP aufgebaut wird. Das funktioniert leider sehr, sehr gut, obwohl die Leute einen anderen Anspruch an sich haben und auch ihr Umfeld nicht so einschätzen.

Wenn ökonomische Macht verteilt wird, wird auch Teilhabe besser verteilt“

Was könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Minderung dieser Probleme beitragen?

Ich denke wirklich, es ist die umverteilende Wirkung. Wir haben in Deutschland eine wirklich krasse Vermögenskonzentrierung auf sehr wenige Menschen – auch eine Umverteilung, aber von den Vielen zu den Wenigen. Während Covid sind die reichen Menschen dieser Gesellschaft noch einmal viel reicher geworden und das ist für die Gesamtgesellschaft einfach ein Problem. Wir haben sehr viel, aber es ist sehr ungleich verteilt, also haben wir sehr ungleiche Ressourcen, uns mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Was, wie ich persönlich glaube, ebenfalls ein Problem darstellt: Dadurch, dass die ökonomische Macht so ungleich verteilt ist, gelangen immer wieder sehr ähnliche Menschen in Führungspositionen, die dann bei der Lösung der Probleme, die wir so haben, auch immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Ich glaube, wenn ökonomische Macht verteilt wird, wird auch Teilhabe besser verteilt. Dann könnten wir zumindest schon mal mehr über das „Wie“ sprechen, weil daran mehr Menschen mitarbeiten könnten.

Wann kommt das bedingungslose Grundeinkommen?

Ich glaube, es gibt viele Wege das Grundeinkommen Realität werden zu lassen. Ich gehe nicht davon aus, dass es den institutionellen Weg gehen wird, also dass irgendeine Partei, die es für eine gute Idee hält, in ihr Wahlprogramm aufnimmt und dass wir dann alle für diese Partei stimmen – man sieht ja auch, dass Wahlprogramme nicht unbedingt zur Umsetzung führen. Ich gehe eher davon aus, dass eine Art „Anti-AKW-Moment“ geben wird, obwohl ich manchmal denke, dass Covid schon dieser Moment war. Aber ich denke auch, wir werden in Zukunft nicht weniger, sondern mehr Krisen haben. Wir sehen ja bereits, dass ein Phänomen wie KI dazu führt, dass selbst in der IT-Branche weniger Menschen gebraucht werden. Weitere Möglichkeiten, das Grundeinkommen als Maßnahme einzuführen, um solche Entwicklungen abzufedern, werden also nicht ausbleiben. Was wir gerade erleben ist, dass das Gefühl von Knappheit größer wird und für viele ist das Grundeinkommen eine Erzählung der Fülle, was es noch schwieriger macht, sie zu erzählen, wenn es immer enger wird. Gerade wenn sich rechtsextreme Narrative weiter durchsetzen, die extrem auf Abwertung basieren, während das Grundeinkommen natürlich ein Vertrauenssystem ist. Ich hoffe sehr, dass wir uns in eine andere Richtung wenden, dass wir uns in einer Zeit in der es sicher schwieriger wird, vertrauen und helfen wollen und nicht auch noch Krisen unter uns selbst heraufbeschwören. Es bleibt spannend, würde ich sagen.

Interview: Christopher Dröge

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