Er kommt gedemütigt und verkrüppelt aus dem Krieg, sie hängt an dem Menschen, mit dem sie sich vor dem Krieg verlobt hat. Beide sind verstrickt in die Umstände des Augenblicks. Ein fast Brechtscher Ansatz, mit dem Karin Neuhäuser sich auf die Suche nach dem Ernst hinter dem Top-Lustspiel der deutschen Literatur begibt. Eine Kleiderfabrik im Nachkriegs-Irgendwo wird zum Spielfeld eines Spiels, dessen Lust nicht mehr auffindbar ist und dessen Handlung so von den Mechaniken des Lustigen abgespalten wurde, dass es Auszüge einer Tragödie ausspeit – und die meisten kennen vorher eh das Ende. Könnte es hier anders sein?
Nur die Umstände haben den Wirrwarr erzeugt zwischen dem immer noch Hacken zusammenschlagenden Major von Tellheim (Klaus Herzog) und dieser verhärmtenMinna von Barnhelm, die ihre Rest-Mädchenhaftigkeit nur vorspielt, während ihre Zofe (Dagmar Geppert) vor strotzender Jugendlichkeit fast platzt. Die Umstände, in denen sich die Quasi-Liebenden bewegen, sind ein grasgrüner Käfig, wie er in Magazinen üblich ist; er ist aber auch ein Steelcage, aus dem die Personen wie die Show-Wrestler nicht entkommen können. Nur selten dürfen sie die Türen in den Gittern von Gralf-Edzard Habben benutzen. Simone Thoma ist eine Minna von Barnhelm, die dem Trauma der 7jährigen Verlobungszeit wohl nicht mehr ausweichen kann, Tellheim dagegen hat sich in die Umstände seiner Existenz verstrickt.
Doch alles in allem spielt die Inszenierung im Arbeitermilieu. Zuerst die Dämmerung in der Kleiderfabrik. Pakete werden gestapelt. Die ArbeiterInnen intonieren a cappella Lilly Marleen, bis drei Reihen die Bühne zerteilen. Der Lagerist erscheint, gibt Anweisungen, in der Pause erhalten alle ein Reclam-Heft. „Endlich mal ein Lustspiel“, ruft es hinter den Kartons. Gotthold Ephraim Lessing scheint noch weit weg, von Soldatenglück keine Spur. Bis der Diener Just (Volker Roos) auftaucht und die Handlung mit der Beschimpfung des Hauswirts (Steffen Reuber) beginnt, dabei Pakete zerschlägt und die Arbeiterschaft verscheucht. Ihm muss noch aus den Reclam-Heften souffliert werden, doch irgendwann sind alle drin im deutschen Edel-Lustspiel der Literaturgeschichte, in dem der Zuschauer nur eine Figur nicht deuten kann: Neuhäuser implementiert Requisiteur Thomas Hoppensack in die Handlung, er schafft live Requisiten heran, hat sogar ein paar Sätze Text bekommen, er ist ein wohlorganisierter Quertreiber in der Choreografie der Figuren. Soweit der Anfang, dessen komödiantische Farcen und halsbrecherischen Slapsticks zwischen den Kartons die Ursachen verschleiern.
Neuhäusers Inszenierung ist ein Psychogramm der besonderen Art. Wenn die Umstände sich ändern, ändern sich auch die Relationen unter den beiden Hauptpersonen. Pocht Tellheim anfangs noch gnadenlos auf seine übersteigerte Eitelkeit, die Handlungshoheit über die allgemeine Moral zu behalten, dafür selbst im Elend zu verharren, so ändern sich diese von ihm selbst gesetzten Prämissen, als er glaubt, dass Minna mittellos sei. Jetzt zwingen ihn seine übersteigerten Grundsätze dazu, die Ehe als Schutz anzubieten – und als er wieder über Mittel verfügt, völlig rehabilitiert ist, wirft er diese endgültig über den Haufen , um in Minnas Falle zu tappen, die nun ihre Eitelkeit als Vorwand nutzt. In Mülheim wird es turbulent, wie immer, wenn das Happy End auf der Kippe steht. Erschöpfung macht sich breit. Eigentlich endet die große Liebe beim Erwachen wie „aus einem schreckhaften Träume“. Hier endet auch das Stück, die vorletzte boulevardeske Szene ist weg, allerdings lässt Neuhäuser das zweite Pärchen jubilieren. Na, das ist doch was. Hinter all dem Spektakel als Verschleierungstaktik steckte dennoch eine sehr bedenkenswerte Inszenierung.
„Minna von Barnhelm“ von Gotthold Ephraim Lessing | R: Karin Neuhäuser | 13.1. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 5 99 01 88
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