Medea lebt in den Slums von Korinth. Keine Mauern, keine Fenster, keine Liebe mehr. Was sie am Leben hält, ist der blanke Hass gegen Jason, den Geliebten, dem sie half in der Heimat das goldene Vlies zu rauben. Die Regisseurin Konstanze Lauterbach hilft dem griechischen Mythos in Essen verhalten in die Gegenwart, insbesondere stehen die Frauen in ihrer Inszenierung gemeinsam im Scheinwerferlicht, die Männer machen das, was sie immer machen, große Politik im Schatten der Mauern. Die große Klammer bleibt Medea, die Hexe aus Kolchis, die Illegale, offiziell nur Asylantin, die nun, da ihr Ehemann Jason lieber die Königstochter heiraten will, zur Ausgestoßenen, zur Ausgewiesenen wird. Eine Rückkehr ist ihr verwehrt, verriet sie doch den Vater und tötete den Bruder. „Kein Unglück ist größer, als aus der Heimat verbannt zu sein.“ Doch am Ende triumphiert sie, jetzt Mörderin der königlichen Nebenbuhlerin, ihrer Kinder, des Herrschers selbst, Zerstörerin des Staates Korinth und seiner unheiligen Gesetze.
Gerade die Kausalität zwischen Machtstreben und dafür „über Leichen gehen“ und der eigenen „Auslegung“ von Legalität trägt die Inszenierung, die in vielen Passagen zwanghaft lehrreich wirkt und dafür viel Geheimnis opfert. Dafür geht Lauterbach den konsequenten Weg. Medea und ihr Korinther Frauenchor wollen nicht trauern, sie wollen Gerechtigkeit für ein Vergehen, das Jason begangen hat. Rührend wie er in Essen versucht, sein Handeln zu rechtfertigen, die Außenseiterin im Staate Kreons ausgerechnet zur Patchwork-Familie zu überreden. Für ihn ist die neue Heirat ein „logischer“ Weg, eben auch vorteilhaft für die Barbarin und ihre Kinder. Auf den Blickwinkel kommt es eben an, besonders wenn er männlich ist und alle Vorteile auf seiner Seite sieht. Kreon dagegen hat die Situation sehr wohl verstanden, die Schamanin ist eine immer latente Gefahr für die Polis und seine Führungsrolle. Ein Bleiberecht ist ausgeschlossen. Die Ausweisung also staatsmännisch logisch, aber eben auch ziemlich rassistisch, denn nach Ansicht der Griechen kommt Medea natürlich aus einem eher minderwertigen Land mit minderwertigen Mythen und Ritualen. So schleicht sich leise ein bisschen Gegenwart in die neue Euripidesübersetzung von Peter Krumme. Oder sollte der Rassismus eher ein historischer Tatbestand im Umgang der Völker untereinander sein, der schon immer so bestanden hat?
Und der Kindsmord? Es ist die letzte Konsequenz der Irrfahrt einer Frau, die alles, auch die Flucht- und Handlungsoptionen verloren hat. Der eigentliche Übeltäter bleibt Jason und so spielt Thomas Büchel ihn auch. Ein typischer Emporkömmling, der dem Kulturkonflikt aus dem Weg geht, der offensichtlich nicht einmal Gefühle für Kreons Tochter hat und steif in der Choreografie am königlichen Hofe mithüpft. Die metallische Folie am Ende der Bühne blendet die ganze Szenerie, vom Edelmetall geprägt ist diese Gesellschaft, die das Archaische überwunden zu haben glaubt und doch barbarischer handelt, als es die Götter je vermochten. Aber selbst die sind auf Medeas Seite, denn Jason brach den heiligen Eid vor ihnen und so etwas durfte damals einfach nicht gutgehen.
Und dann kommt das Finale, nachdem Janina Sachau die Figur der Medea bis an die tatsächliche Schmerzgrenze zwischen den schneeweißen Ytong-Bausteinen ausgekostet hat. Noch hat der Korinther Frauenchor minimale Hoffnung auf ein Überleben der Kinder, kaum vorstellbar ist den Zivilisierten dieser letzte Schritt. Doch die zwei werden beiseite geführt, nachdem sie ihren Vater noch einmal sehen durften. Korinths Königstochter kämpft da schon geschickt vergiftet auf der Hochzeit um ihr Leben, anschließend Kreon, dessen Reich zerfällt. Hier wird die Inszenierung ein wenig platt, doch die Emotionen kochen. Die Goldfolie von der Bühnenrückseite raschelt herunter und Medea wickelt sich ein in Madonna-Pose, erstarrt zum letzten Bild. Die Hexe aus Korinth hat sich in der Auseinandersetzung mit der Zivilisation positioniert. Eine neue Odyssee oder ein neuer Irrweg?
„Medea“ | Sa 12.4. 19.30 Uhr, So 13.4. 16 Uhr, | Grillo Essen | 0201 81 22 600
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