Den nächsten Schöpfungsakt vollziehen wir selbst. Die Zukunft wird grenzenlos. Wasser, Luft, Nahrung, alles Quatsch, reine Energie lässt den Intellekt existieren, solange er will und solange er noch über Ersatzbatterien verfügt. Dieses Gedankenmodell, das schon frühen Zukunftsromanen des letzten Jahrhunderts als Prämisse diente, hat längst zeitgenössische wissenschaftliche Dimensionen angenommen und die werden im Dortmunder Theater kunst- und lustvoll gespiegelt.
Es qualmt, es zischt, wie in einer barocken Hexenküche erscheint der Chor aus den Tiefen des Theaterkellers. Wer jetzt Mephistopheles erwartet, sitzt im falschen Stück, hier wird eine Möglichkeit des Fortschritts lebendig. Was daraus blühen kann, können Interessierte mal in Frank Herberts genialem Schiff-Zyklus nachlesen. Im Dortmunder schafft Regisseurin Claudia Bauer ein gepimptes Oratorium für OpernsängerInnen, MusikerInnen und SchauspielerInnen.
Am Anfang steht die erste Person Plural als Pronomen. Eine neue Form mit Schwarmintelligenz oder doch nur knetbare Masse für neue Formen? Die Gruppe fällt subtil auseinander, werden Mimen oder Musiker, stehen für die neue Evolution im Kosmos oder das uralte Weltbild aus der Zeit, als die Erde noch eine Scheibe war. Claudia Bauer nutzt das Oratorium „Die Schöpfung" (1798) von Joseph Haydn zum Lob Gottes als „dem“ Schöpfer als musikalischen Kontrapunkt zur performativen „Neuen Menschwerdung“ im sich ständig drehenden Transhumanismus-Laboratorium. Hier soll aus dem Haufen zeitgenössischer Homunkuli endlich ein perfekter künstlicher Organismus mit neuem Ghost (einmal verbeugen vor Meister Masamune Shirow) entstehen. Das „in principio creavit Deus“ (am Anfang erschuf Gott) in Dauerschleife hält da niemanden mehr auf und „caelum et terram“ (Himmel und Erde) – wer braucht das dann noch. Interessanterweise bewegt sich das Theater Dortmund damit wieder einmal an der Nadelspitze der theoretischen Physik und einer noch nicht zu Ende gedachten, noch futuristischen Philosophie und natürlich Ethik. Hier kommt dann doch der Geist, der stets verneint, ins Spiel, denn wer das Natürliche retten will, vergisst, dass „alles was entsteht, ist werth daß es zu Grunde geht“. Und wer die reine Vernunft als Lücke begreift, der ist der digitalen Evolution schon ganz nah. Kein Wunder, dass man im Innern der Zeitlupen- Zentrifuge auch ab und an ein Teil von Hieronymus Boschs Endzeit-Triptychon entdecken kann: Haydns Oratorium bleibt als „Schöpfung“ die Folie im Vordergrund, nebst (gedachtem) drohendem Zeigefinger.
Ob das alles wider die menschliche Natur sein muss, kann niemand wissen. Die humanoiden Versuchskaninchen haben das Barock nun hinter sich gelassen – duschen, umziehen, und während „das erbärmliche Wesen Mensch“ bereits mit Computerstimme Zitatwolken aus der Kammer des Schreckens quellen lässt, beharren die großartigen Sänger Maria Helgath, Ulrich Cordes und Robin Grunwald darauf, die Krone der Schöpfung als „Mann und König der Natur“ zu preisen, der „gen Himmel aufgerichtet“ da schon immer so rumsteht. Das alles erzeugt eine kunstvolle, kaum zu beschreibende Melange aus inhaltlichen Parallelen und visuellen Wahrnehmungen, die den Blick wie ein Magnet ohne geringste Pause oder Ablenkung auf das Geschehen auf der Bühne zwingt. Eine Livekamera zeigt aus der Vogelperspektive (schon blöd, wenn bei einem Stück über digitale Zukunft Bild und Ton nicht synchron sind), wie sich der Mensch über die goldene Treppe emporschwingt ins Paradies, und das liegt dann doch irgendwo zwischen den Sternen, dort wo die Borg schon immer wohnen.
Aber so weit ist es dramaturgisch noch nicht. Maskenhaft, weil alle im gleichen Körper stecken, durchwandern die digitalen Geister wie Klapauzius und Trurl aus Stanislaw Lems Kyberiade nun als Cyborgs die schöne neue Welt: „Den Morgen grüßt. Der Lerche frohes Lied, Und Liebe girrt.“ Ja, gepfiffen. Mit Laster und Lust hat diese postmoderne Verunsicherung nichts mehr am Hut. Die Module spielen nie mehr verrückt und „Mensch ich bin total verliebt, voll auf Liebe programmiert“ ja das ist doch tiefstes Mittelalter (1995), die perfekte Cyborg-Frau erfüllt alle Wünsche, aber es gibt niemanden mehr, der in dieser Richtung welche hätte. Also heißt es am Schluss Kampf oder untergehen, doch mir scheint, langfristig wird Widerstand zwecklos sein. Denn die letzte These: „Der Mensch kann sich retten, wenn er den natürlichen Menschen aufgibt“ ist kaum zu widerlegen. Aber Schöpfung voller Schöpfer – denken wir nur mal an den Puppenspieler bei Masamune Shirow – da sei Gott vor.
„Schöpfung“ | R: Claudia Bauer | So 29.4., So 20.5. 18 Uhr, Sa 2.6. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Dortmund | www.theaterdo.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Antiker Zirkus
„Antigone“ am Theater Dortmund
Tödlicher Sturm im Wurmloch
„Adas Raum“ am Theater Dortmund – Prolog 04/24
Das Viech im Karussell
„Woyzeck“ im Dortmunder Theaterstudio – Auftritt 10/22
„Die Urwut ist ein Motor des Menschen“
Jessica Weisskirchen über ihre Inszenierung des „Woyzeck“ – Premiere 09/22
„Alle haben recht und gleichzeitig keiner“
Julia Wissert über „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 03/22
Turbokapitalismus im Pfirsichhain
Milan Peschel inszeniert „Früchte des Zorns“ – Prolog 09/21
Mit Bier aus den Höllen
Zukunft in Ruhrgebietstheatern – Prolog 02/20
Das ewige Prinzip Projektion
Das winterlich Weibliche im kurzen Monat – Prolog 01/20
„Einmal volle Kanne ins Fettnäpfchen“
Laura Junghanns über „Familien gegen Nazis“ – Premiere 10/19
Puffmutter mit Samtkragen
„Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ in Dortmund – Theater Ruhr 03/19
Gedanken aus dem Giftschrank
Alternative Gedanken in Bochum und Dortmund – Prolog 12/18
Der Zauber einer verträumten Zeit
Weihnachts-Theater-Möglichkeiten im Ruhrgebiet – Prolog 11/18
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24