Wenn sie sich kennengelernt hätten, wäre sicher eine Freundschaft entstanden: der 1927 in Bunzlau/Niederschlesien geborene Dieter Hildebrandt und der 1952 in Chicago/Illionois geborene Schauspieler Walter Sittler. Wenn dieser am 21.4. im Bocholter Textilwerk (Bühne Pepperoni) aus „Was aber bleibt – Texte aus fünf Jahrzehnten“ (Blessing Verlag), einem von Rolf Cyriax zusammengestellten Buch mit ausgewählten Texten des 2011 gestorbenen kabarettistischen Genies vorliest, kann man davon ausgehen, dass es eine Begegnung verwandter Geister gibt – und ein großer Genuss für die Zuhörer wird, selbst wenn die berechtigte Kritik an den mangelnden redaktionellen Hinweisen damit nicht entkräftet wird. Schließlich weiß längst nicht mehr jeder, wer Hans-Joachim von Merkatz und Heinz Riesenhuber war.
Derartige Details spielen bei der Auswahl von Hildebrandts Satiren aus den Anfängen als Student, der Münchner Lach- und Schießgesellschaft (1956–1972), den Notizen aus der Provinz (1973-79), dem Scheibenwischer (1980-2003) und aus den letzten zwanzig Jahren seines Lebens schließlich eine untergeordnete Rolle. Wesentlich entscheidender ist in diesem Fall, dass mit Sittler ein großartiger Interpret gefunden wurde, einer, dem man den Unmut über die maroden Zustände im Land abnimmt. Nicht umsonst hat sich der Schauspieler („girl friends“, „Nikola“) seit 2009 am Bürgerprotest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 engagiert und war viele Jahre mit Erich-Kästner-Programmen wie „ Als ich ein kleiner Junge war“ und „Vom Kleinmaleins des Seins“ auf Tournee gewesen.
Womit eine klare Verbindungslinie zu Hildebrandt besteht, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Student im Münchner Theater „Die kleine Freiheit“ als Platzanweiser arbeitete und dort den Autor und Theater-Mitbegründer Kästner kennenlernte. Auf die Frage, wie dieses Treffen verlaufen sei, antwortete Hildebrandt in einem Interview: „Er kam eines Tages in das Programm und mit ihm ein dicker Mann, der mir unsympathisch war. Ich hatte einen geborgten Anzug an mit einem Fleck auf der Schulter, der mir sehr peinlich war. Der M tippte mit seinem dicken Finger auf meinen Fleck und scherzte: ‚Geiger, was?‘“ Kästner habe sich köstlich amüsiert.
Dabei hat Hildebrandt sich zu dieser Zeit mit diversen Jobs über Wasser gehalten, arbeitete alsNachtwächter in einem Jugendheim, wofür er dort umsonst wohnen durfte und eine Weile als Aushilfskraft bei der Deutschen Bau- und Bodenbank, wo er mit Rechenmaschinen den Lastenausgleich für Vertriebene ausrechnen musste.
„Wenn wir die Gagen, die wir bekamen, heute nennen würden, würden wir uns blamieren“, merkte er über die finanzielle Situation auf den Kleinkunstbühnen jener Tage an. Diese hat sich mit der Gründung der Lach- und Schießgesellschaft im Jahr 1956 langsam aber sicher gebessert, wozu nicht zuletzt die Fernsehanstalten beitrugen, die deren Programme an Silvester ausstrahlten – mit tollen Einschaltquoten, nicht nur dank mangelnder TV-Konkurrenz. Sittlers Rückblick ist auch eine Hommage an das Werk Hildebrandts und dürfte nach wie vor nachdenklich machen – meint zumindest die stets über Tage lebende
Walter Sittler liest Dieter Hildebrandt: „Was aber bleibt?” | Sa 21.4. 20 Uhr | Textilwerk Bocholt (Spinnerei) | 02871 374 73
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