trailer: Herr Hoffrogge, wie unterscheiden sich heutige Krisen von denen, die Marx kannte?
Ralf Hoffrogge: Wie Menschen mit Krisen umgehen und wie diese gesellschaftlich verarbeitet werden, ist für jede Epoche unterschiedlich. Die erste von Marx untersuchte Krise war die von 1847. Verursacht durch Klimaschwankungen gab es in ganz Europa Missernten und die Brotpreise stiegen, auch die irische Hungersnot fällt genau in diese Zeit. Die steigenden Lebensmittelpreise verstärkten das schon vorhandene Problem des „Pauperismus“, einer Massenarmut breiter Schichten. So mündete eine Klimakrise in eine Wirtschaftskrise, die wiederum eine politische Krise nach sich zog: Die Revolution von 1848. Marx hat daraus Anfang 1848 im kommunistischen Manifest, in dem er die Krise schon kannte, die Revolution aber noch bevorstand, relativ optimistisch abgeleitet: „Krise gleich Revolution“. Immer wenn es den Leuten schlecht geht, dann rebellieren sie. Heute haben wir eher den gegenteiligen Zusammenhang. Es gibt mehr Streiks, wenn die Konjunktur brummt. In Wirtschaftskrisen haben die Leute eher Angst und mucken weniger auf und die Löhne stagnieren eher, wenn die Arbeitslosigkeit groß ist.
Was bedeutet das genau?
Zu Marx Lebzeiten, von 1818 bis 1883, ging es nicht so sehr darum, dass die Leute in der Krise leiden, sondern der Normalzustand des Kapitalismus bedeutete für die Mehrheit der Leute Elend und Hunger. Aufgrund komplett fehlender Sozialstaatlichkeit, fehlender Garantien für Alter, Krankheit oder Kinder waren die elementaren Lebensrisiken in keiner Weise gesichert. Bei Marx ist das im „Kapital“ auch reflektiert. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sind es immer die Arbeitslosen und die Angst davor, selbst in dieses Heer der Arbeitslosen abzusteigen. Kein Geld mehr zu haben. Sich nichts mehr leisten zu können. Im 19. Jahrhundert bedeutete das auch noch Hunger. Die Angst davor, die Familie nicht mehr ernähren zu können. Es gab zu dieser Zeit keine Sozialhilfe oder Ähnliches, nur die kirchliche Armenfürsorge. Was Marx dann in seinem Spätwerk erkennt: Diese Reservearmee diszipliniert. Das bedeutet, die Arbeitenden haben Angst vor der Arbeitslosigkeit und trauen sich nicht, auf der Arbeit ihre Rechte geltend zu machen. Die Reservearmee drückt sozusagen den Lohn.
Welche Maßnahmen hat die Politik ergriffen?
In der Epoche nach 1918 haben die meisten Staaten Versicherungen für die elementaren Lebensrisiken entwickelt. In Deutschland schon in den 1880er Jahren mit der Einführung von Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen. Die ersten beiden wurden gemeinsam von Arbeitenden und Unternehmen bezahlt, letztere komplett von den Unternehmen. Das war schon ein Ergebnis von Marxismus und Klassenkampf. Denn der alte Bismarck wollte vermeiden, dass die Leute Sozialdemokratie wählen. Daher hat er mit dem „Sozialistengesetz“ alle Gewerkschaften und die Sozialdemokratie verboten. In den Jahren danach gab es dann die genannten Sozialversicherungen – als Maßnahme nationaler Integration, um eine unruhige Arbeiterklasse zu befrieden. In der Epoche nach der Russischen Revolution 1917 und der deutschen Revolution 1918 kam dann ein neuer Schub, viele Staaten führten Sozial- und Rentenversicherungen ein, die Arbeitszeit wurde in Frankreich und Deutschland auf den 8-Stundentag begrenzt. Auch da, wo es keine Revolutionen gab, wirkte die Erfahrung – oder die Angst – vor der Revolte und verlieh den Forderungen von Gewerkschaften Nachdruck.
Was wird heute als Krise wahrgenommen?
Die Krise, über die heute natürlich alle reden, ist die Finanzkrise seit 2008. Jetzt, 10 Jahre später, spricht man in Deutschland wieder von Aufschwung. Wenn man die Konjunkturdaten allerdings mit den 1970ern vergleicht, sind die Wachstumsraten sehr niedrig. Wir sind sozusagen wieder leicht ins Plus gerückt, aber ein Boom sieht dennoch anders aus. Zudem besteht trotz positiver Wirtschaftszahlen ein Trend zur Verarmung der Mittelschicht, ebenso wie das Phänomen „arm trotz Arbeit“. Eine langfristige Krise des Sozialstaats eigentlich, die hinter dieser ökonomischen Finanz- und Wirtschaftskrise liegt. Zudem sind die Arbeitslosenzahlen auch im heutigen ‚Aufschwung‘ höher als oft zugegeben. Denn, wenn man mal ehrlich ist und die Leute mitrechnet, die in irgendeiner Maßnahme des Jobcenters, in einem Training oder aufgrund ihres Alters zwangsverrentet sind, dann haben wir deutlich höhere Arbeitslosenzahlen. Man spricht bei diesem Phänomen von einer Sockel-Arbeitslosigkeit; also eine ständige Arbeitslosigkeit, die uns auch jenseits der Krisen begleitet. Das wird von vielen als unnormal empfunden im Vergleich zum gefühlten Normalzustand, der in der deutschen Erinnerung noch eine große Rolle spielt: das Wirtschaftswunder ab 1950 bis etwa in die Mitte der 70er Jahre. Das waren die goldenen Jahre des Kapitalismus, die aber auf lange Sicht eher eine Ausnahmeerscheinung gewesen sind.
Wie kam es zu dieser Ausnahme?
Nach der deutschen Teilung 1949 wurde der westdeutschen Industrie sehr schnell erlaubt, wieder hoch zu kommen und Absatzmärkte zu erschließen, die sie vorher gar nicht hatte. Schon 1951 durfte die Bundesrepublik etwa dem transatlantischen Freihandelsabkommen GATT beitreten, die Kriegsschulden wurden 1953 erlassen – nur sieben Jahre nach der Kapitulation. Von französischer Seite wurde so eine schnelle Unabhängigkeit und Integration erst nicht gern gesehen, aber am Ende dominierte die Absicht, die Bundesrepublik in die westliche Wirtschafts- und Verteidigungsbündnisse zu holen – eine Folge des Kalten Krieges.
Kapitalismus als Arbeitskampf: Ein Symptome wäre Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer. Gibt es Parallelen aus der Zeit von Zeit?
Kein Arbeiter arbeitet freiwillig für weniger Lohn, wenn Sie mich fragen. Wenn Sie Marx fragen würden, wird dem Arbeiter jedoch auch bei Tariflohn weniger gezahlt als ihm zusteht. Das ist der Kern der Theorie von Marx, indem er die Frage stellt, wo der Profit herkommt. Schon seine Vorläufer, die Vertreter der klassischen Arbeitswerttheorie sagten: Natürlich kommt der Wert aus der Arbeit. Jemand arbeitet etwas, woraus etwas entsteht, ein Mehr-Wert. Das Produkt kann man verkaufen und daraus entsteht ein Gewinn oder Profit. Marx hat das Ganze noch einmal genauer untersucht und gewendet: Wer nimmt denn den Gewinn mit? Aller Reichtum, all das Wirtschaftswachstum kommt aus der Arbeit, aber angeeignet wird es vom Fabrikanten, teils auch vom Handels- oder Finanzkapital. Wenn aber der Reichtum eigentlich aus der Arbeit entsteht – dann muss es ja am Ende so sein, dass der Arbeiter unter Wert bezahlt wird. Denn sonst entstünde gar kein Plus, sondern Nullwachstum. So ließe sich eine Firma auch führen, aber das wäre dann beinahe Sozialismus. Deshalb hat die Wirtschaftswissenschaft die Arbeitswerttheorie in den 1890er Jahren einfach fallen gelassen. Das wollte man nicht hören. Seitdem reden alle immer nur noch über den Markt, über Angebot und Nachfrage und nicht mehr darüber, wo der Reichtum eigentlich her kommt.
Heute wirken einige Gewerkschaften nahezu übermächtig. Wie ist das zu bewerten?
Gewerkschaften sind nicht übermächtig. In den 1970er Jahren gab es viele Beschwerden über den „Gewerkschaftsstaat“ und darüber, dass die Gewerkschaften die politische Landschaft dominieren. Es war dann eine Zeit lang Ruhe um diesen Vorwurf, weil die deutschen Gewerkschaften seit 1990 Reallohnverluste hinnehmen mussten: Die Löhne stiegen niedriger als die Inflation, durch Outsourcing und andere Maßnahmen wurde ein neuer Niedriglohnsektor geschaffen, mit den Hartz-Gesetzen auch staatlich gefördert. Was wir heute erleben, sind Teilerfolge, diese Entwicklungen zurückzudrängen. Diese Erfolge sind nur möglich durch Arbeitskämpfe. Dabei wird nicht zufällig in Kitas, bei Fluglinien oder im öffentlichen Dienst gestreikt. Denn dies sind Bereiche, die man nicht wegglobalisieren kann. Man kann diese Arbeitsplätze nicht verlagern – sie können ihre Kinder nicht in China zur Betreuung abgeben. Deswegen haben die Erzieherinnen vergleichsweise gute Chancen, einen anständigen Lohn durchzusetzen. Ein Nachteil für die Streikenden ist jedoch, das viele dieser nicht-verlagerbaren Bereiche wie Pflege, Erziehung, Bildung aus öffentlichen Geldern bezahlt werden. Und da erleben wir heute einen Widerspruch: Wenn der deutsche Staat auf die Vermögenssteuer und ähnliches verzichtet, aber dennoch eine Bildungsoffensive machen will, dann muss er sie von irgendetwas bezahlen. Das soll dann durch den Niedriglohn gerichtet werden – Bildung gerne, aber es darf nichts kosten. Dagegen, dass sie die Bildungsoffensive bezahlen sollen, wehren sich dann Kindererzieherinnen zurecht. Man fragt sich, warum nicht der Staat oder die Unternehmen, die nach Qualifizierung rufen und Fachkräftemangel beklagen, die Bildungsoffensive selbst bezahlen.
Welche der von der Arbeiterbewegung erkämpften sozialen Absicherungen sind erhalten?
Dass wir einen Mindestlohn haben, ist ein Stück Klassenkampf in der Gegenwart, wenn Sie so wollen. Denn wenn die Gewerkschaft ver.di nicht seit 10 Jahren eine Kampagne geführt hätte, wäre das nie gekommen. Ältere Errungenschaften bestehen heute noch: die genannte Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Insbesondere letztere ist eine Errungenschaft: Wenn im Jahr 1875 beispielsweise der Arbeiterin eine Hand in die Maschine geraten ist und die Hand war ab, dann wurde sie erst einmal entlassen. Ob der Unternehmer ihr dann etwas als Entschädigung zahlt oder nicht, das konnte er sich selbst aussuchen. Jetzt haben wir eine Unfallkasse, in die zu 100 Prozent die Arbeitgeber einzahlen müssen und die springt ein, wenn man einen Arbeitsunfall hat.
Sie haben den Mindestlohn angesprochen. Halten Sie ihn für ausreichend?
Der Mindestlohn war ein großer Fortschritt, aber er ist zu niedrig. Wenn man das mal hoch rechnet, ein Leben lang für den aktuellen Satz 8,84 Euro zu arbeiten, bedeutet das eine Rente, die nicht existenzsichernd ist, sondern man ist dann im Alter auf Grundsicherung angewiesen. Der Staat zahlt dann also wieder zu – das ist weder nachhaltig noch menschenwürdig.
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