trailer: Herr Butterwegge, Joachim Gauck hat für Entrüstung gesorgt, als er empfahl, für den Frieden zu frieren. Was halten Sie davon?
Christoph Butterwegge: Als früherer Pfarrer und Bundespräsident Verzicht zu predigen, finde ich leicht, wenn man bedenkt, dass Herr Gauck bis ans Lebensende jeden Monat Bezüge von über 20.000 Euro erhält – dazu kostenlos ein Büro, eine Sekretärin und einen Fahrer. Ich glaube nicht, dass er jemals frieren wird. Aus dieser Situation heraus armen Menschen in Deutschland etwas zuzumuten, was man selbst nie erleiden wird, d.h. ihnen Verzicht zu predigen, um angeblich die Freiheit zu sichern, finde ich zynisch. Offen gestanden fühle ich mich auch an einen anderen Bundespräsidenten erinnert, an Roman Herzog, der über Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger herzog und selbst die Privilegien eines Bundespräsidenten genoss. Thilo Sarrazin hat als Berliner Finanzsenator den Hartz-IV-Beziehern geraten, die Heizung zu drosseln und sich einen zusätzlichen Pullover anzuziehen. Solche Aussagen gehören sich ganz einfach nicht. Was die Moral in unserem Land angeht, zeigen diese Beispiele, dass sich Schleusen geöffnet haben.
„Es ist zu befürchten, dass sich Energie- und Ernährungsarmut gerade bei alten Menschen ausbreitet“
Für die Rüstung wird plötzlich massiv Geld in die Hand genommen. An anderen Stellen wie Bildung und Pflege bleibt die Politik weiterhin verhalten. Schürt das sozialen Unmut?
Der soziale Friede ist in Gefahr, wenn aufgrund des größten Aufrüstungsprogramms seit 1945 das Geld für lebenswichtige Aufgaben des Staates fehlt. Das war absehbar nach der Corona-Krise, die für den Staat wegen seiner enormen Finanzhilfen sehr teuer gewesen ist. Wenn man zusätzliche Milliarden in die Rüstung steckt – den Rüstungshaushalt auf über zwei Prozent erhöht und gleichzeitig ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro errichtet – wird das Geld woanders knapp. Geld, das eigentlich dringend nötig wäre, um soziale Probleme zu lösen, die während der Pandemie entstanden sind oder sich verschärft haben, z.B. die Armut und zum Teil auch die Verelendung in bestimmten Milieus, von Obdachlosen etwa. Diese konnten während der Pandemie nicht einfach – wie ihnen geraten – zuhause bleiben, aber auch im Lockdown kaum Geld durch Flaschensammeln, Betteln oder das Verkaufen von Straßenzeitungen einnehmen. Ich würde mir ein Sondervermögen seitens des Bundes wünschen, um Obdach- und Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, der Kinderarmut entgegenzuwirken und die Alterssicherung für Arbeitnehmer:innen wieder solide zu gestalten. Bei der kommenden Rentenerhöhung am 1. Juli – im Westen mit über fünf Prozent, im Osten über sechs Prozent – wird so getan, als würde ein Füllhorn über den alten Menschen ausgekippt. In Wirklichkeit ist zu befürchten, dass sich Energie- und Ernährungsarmut gerade bei alten Menschen ausbreitet. Denn die rasant steigenden Preise für Heizen oder Strom, aber auch bei Grundnahrungsmitteln wie Brot, Mehl oder Nudeln, bedeuten für Menschen mit einer Mini-Rente, dass sie den Gürtel noch enger schnallen müssen. Ein Sondervermögen zu schaffen, das solche Probleme beseitigt, wäre sinnvoll und nötig. Kinderarmut ist ein Langzeitskandal in Deutschland seit Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005. Seitdem hält sich die Zahl der Kinder im Transferleistungsbezug konstant bei etwa 2 Millionen. 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche gelten sogar als arm, wenn man die Kriterien der europäischen Union anlegt. Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II zu erhalten bedeutet, auf einem minimalen Niveau zu leben, bei dem selbst ein Erwachsener nur wenig mehr als 5 Euro am Tag für Nahrung zur Verfügung hat. Davon kann man sich nicht abwechslungsreich und ausgewogen ernähren. Dasselbe gilt für jene Kinder, die das Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt nicht erreicht hat, weil es als bürokratisches Monster konstruiert worden ist. Es gibt massenhaft soziale Probleme im Land. Die Armut ist auf einem Rekordstand: 16,1 Prozent der Bevölkerung – 13,4 Millionen Menschen – sind einkommensarm oder armutsgefährdet, wie das verharmlosend genannt wird. Was die Aufgaben des Sozialstaates betrifft, gibt es also genug zu tun. Doch es gibt nur eins: Rüstungs- oder Sozialstaat. Man kann ein gigantisches Aufrüstungsprogramm nicht in dem Glauben starten, dass keine sozialen Leistungen auf der Strecke blieben. Vielmehr kommt die Gerechtigkeit in Deutschland dadurch noch mehr unter die Räder.
„Ein Krieg wird nie von einer Person geführt, sondern immer von der Elite des betreffenden Landes“
Ist der Ukraine-Konflikt eine Gelegenheit, sich den Etatvorgaben der NATO zu beugen?
In der Ukraine hilft es niemandem, wenn 35 Tarnkappen-Militärjets eines US-amerikanischen Rüstungskonzerns angeschafft, neue Fregatten gekauft oder Panzer entwickelt werden. Deshalb ist die Begründung sehr fadenscheinig und scheint unabhängig davon gewesen zu sein, einen Paradigmenwechsel zur forcierten Aufrüstung der Bundeswehr vorzunehmen. Dass die Bundesregierung von Russlands Präsident Wladimir Putin oder irgendeinem anderen Staat bedroht würde, vermag ich auch nicht zu erkennen. Der russischen Armee gelingt es offenbar ja nicht einmal, Donezk und Luhansk militärisch unter Kontrolle zu bekommen. Die Formulierung „Putins Krieg“ taucht seit der „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz am 27. Februar ständig auf. Das erinnert mich ein bisschen an die Personalisierung, Psychologisierung und Pathologisierung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Indem nur von „Hitlers Krieg“ die Rede war, hat man sich selbst von aller Schuld freigesprochen. Es waren nicht Deutsche oder Nationalsozialisten und viele Mitläufer, sondern es war nur eine Person, die durchgeknallt war und die damit den Krieg zu verantworten hatte.
Jetzt wird dasselbe mit Putin gemacht. Doch ein Krieg wird nie von einer Person angezettelt und geführt, sondern immer von der Elite des betreffenden Landes – der ökonomischen, der politischen und Verwaltungselite. Putin als Präsident Russlands ist sicher aufgrund seiner Führungsposition hauptverantwortlich. Ihm diesen Krieg jedoch allein zuzuschieben und an seiner psychischen Konstitution zu zweifeln, ist eine Simplifizierung des Problems, die alles andere – auch die Mitverantwortung der NATO – ausblendet. Die Rüstungsindustrien der westlichen Staaten haben ein Interesse daran, dass es möglichst lange und viele Waffenlieferungen in die Ukraine gibt. Ob die Waffen das sind, was die Menschen vor Ort wirklich brauchen, wage ich zu bezweifeln. Denn solche Waffenlieferungen verlängern möglicherweise sogar den Krieg, das Sterben und das Leiden der Bevölkerung. Sinnvoller wären politische Friedensbemühungen, nicht weiteres Säbelrasseln und Aufrüsten überall.
„So schürt man Neid, Missgunst und rassistische Ressentiments“
Was sind mögliche Konsequenzen im sozialen Miteinander, politisch wie privat?
Die Stimmung ist aktuell sehr solidarisch im Hinblick auf die ukrainischen Geflüchteten. So war es auch 2015/16. Seinerzeit ankommende Syrer:innen wurden mit offenen Armen empfangen, zuerst. Allerdings schlug die Stimmung bald um, was auch jetzt geschehen kann. Um ein singuläres Beispiel zu nennen: Die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) lassen alle Ukrainer:innen den öffentlichen Nahverkehr kostenfrei nutzen. Hiesige Arme, die Busse und Bahnen ohne einen gültigen Fahrschein genutzt haben, sind zu Geldstrafen verurteilt worden und sitzen, wenn sie diese nicht zahlen wollten oder konnten, dafür heute noch im Gefängnis. Da fragt sich ein armer Deutscher möglicherweise irgendwann: „Wieso kann ich Busse und Bahnen nicht umsonst benutzen, ein Ukrainer hingegen schon?“ So schürt man Neid, Missgunst und rassistische Ressentiments. Ich befürchte, dass die Solidarität, die man jetzt mehrheitlich spürt, wie auch zu Beginn der Pandemie - mit Applaus auf den Balkonen für die ‚systemrelevanten‘ Berufe sowie die ‚Helden und Heldinnen des Alltags‘ – umschlagen kann und der gesellschaftliche Zusammenhalt darunter leiden wird. Sie wird nicht dazu genutzt, die Armut in Deutschland zu bekämpfen, sondern den Kurs der Rheinmetall-Aktie, des größten Rüstungskonzerns der Bundesrepublik, binnen zweier Tage um 60 Prozent steigen zu lassen. Davon profitieren einzig die Besitzer solcher Aktien – in der Regel sehr reiche Leute. Dagegen nimmt die Armut eher zu. Denn die wenigen Möglichkeiten für Arme, sich zu versorgen, etwa bei den Tafeln, müssen jetzt auch noch geteilt werden, nämlich mit Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine zu uns flüchten.
„Osteuropäer:innen unterliegen auch rassistischen Ressentiments, deren Ursprung in der NS-Zeit liegen“
Es wird dann voller, es gibt weniger für die Einzelnen ...
Genau. Aufgrund der wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheit entsteht eine scharfe Konkurrenzsituation. Dem entgegenzusteuern wäre eigentlich Aufgabe der Bundesregierung, anstatt den Rüstungshaushalt explosiv ansteigen zu lassen.
Sehen Sie auch eine Gefahr in Bezug auf das Erstarken von rechten Parteien?
Das könnte eine Folgewirkung rassistischer Tendenzen sein. Ukrainer:innen werden noch einmal anders wahrgenommen als Syrer:innen. Weil sie keine Muslime und Europäer sind, gibt es gegenwärtig keine Ressentiments. Aber man darf sich nichts vormachen. Osteuropäer:innen unterliegen auch rassistischen Ressentiments, deren Ursprünge in der NS-Zeit liegen. Der Eroberungsfeldzug, den die Nazis vom Zaun gebrochen haben, wurde mit Propaganda über ‚slawische Untermenschen‘ vorbereitet. Sie findet sich auch noch heute in manchen Köpfen. Deswegen fürchte ich, dass wir mit einem Erstarken von rechtsextremen Gruppierungen zu rechnen haben.
„Es gibt nur kaltes Wasser an sämtlichen Waschbecken“
Was können sinnvolle Maßnahmen bei steigenden Energiepreisen sein?
Politisches Engagement ist wesentlich, nicht Askese, die Arme nicht praktizieren können oder gerade ihnen schadet. Ich will einmal zitieren aus den ‚20 Spartipps‘ einer Lokalzeitung, die mir ins Haus geflattert sind. Man sieht, wie unsinnig diese angesichts der steigenden Energiepreise für Menschen ohne Geld sind. Da heißt es an dritter Stelle, man solle abends früh die Rollläden runterziehen, damit die Wärme drinnen bleibt. Arme Menschen bewohnen aber selten Wohnungen mit Rollläden und können das gar nicht anwenden. Der sechste Spartipp lautet, das Gäste-WC nicht zu heizen, selbst dann nicht, wenn Besuch kommt. Arme Menschen haben gar kein Gäste-WC. Der achte Ratschlag lautet, das Badewasser reiche für mehrere Kinder. Wenn ich unsere eigenen Kinder anschaue, die ziemlich dreckig vom Spielen reinkommen, frage ich mich, wie sinnvoll es ist, mehrere Kinder in demselben Wasser zu baden. Und an letzter Stelle steht: „Es gibt nur kaltes Wasser an sämtlichen Waschbecken.“ Das erinnert mich dann wieder an Joachim Gauck und sein ‚Frieren für die Freiheit‘.
ZEITENWENDE - Aktiv im Thema
iwkoeln.de | Die Ökonomin Sarah Fluchs skizziert in den Nachrichten des Instituts der deutschen Wirtschaft, wie Kriege die Umwelt schädigen.
nabu.de/news | Der Naturschutzbund Deutschland betont angesichts des Kriegs in der Ukraine den Zusammenhang von sicherheits- und umweltpolitischen Herausforderungen.
greenpeace.de/frieden/krieg-umwelt | Der Greenpeace-Beitrag diskutiert am Beispiel des Irak, wie Kriege sich gezielt auch gegen die Umwelt richten.
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