Last days
USA 2005, Laufzeit: 97 Min.
Regie: Gus Van Sant
Darsteller: Michael Pitt, Lukas Haas, Asia Argento, Scott Green Jr., Nicole Vicius, Ricky Jay, Ryan Orion, Harmony Korine, Kim Gordon
Die letzten Tage des berühmten Musiker Blake: In seinem schlossähnlichen Haus vegetiert der Drogensüchtige dahin, stammelt unverständliches Zeug, taumelt ziellos durch die Gegend und erschießt sich schließlich. Um ihn herum hausen einige Freunde, ohne viel davon mitzubekommen. Großartiges FilmexperimentGus Van Sant findet im fortgeschrittenen Alter zu einer kompromisslosen Ästhetik, die viel Raum für Interpretationen lässt, damit aber auch an die Grenzen der kommerziellen Verwertbarkeit stößt. "Last Days" hat lange gebraucht, um in die deutschen Kinos zu gelangen. Bereits im Mai 2005 lief der Film im Wettbewerb in Cannes. Dass er überhaupt, wenn auch erst fast zwei Jahre verspätet, ins deutsche Kino kommt, liegt zum einen an der Bekanntheit von Van Sant, zum anderen sicherlich an dem Thema. Denn "Last Days" erzählt zwar nicht explizit von den letzten Tagen vor dem Selbstmord des Nirvana-Sängers Kurt Cobain, doch die Inspiration des Films durch Cobain ist mehr als offensichtlich und wird vom Regisseur auch nicht verleugnet.Ästhetik der Freiheit ... Ein Mann, Kurt Cobain nicht unähnlich, stolpert wirr murmelnd und nur mit einem Negligee bekleidet durchs Unterholz. Dann watet er durch einen Bach, macht anschließend ein Lagerfeuer und kauert sich fröstelnd davor. Am nächsten Morgen stößt er auf ein großes Herrenhaus, in dem er es sich bequem macht. Es ist sein Haus. Mehrere Leute tummeln sich dort, schlafen, essen, machen Musik, nehmen Drogen. Ein Vertreter der Gelben Seiten möchte eine Anzeige verkaufen, die Mormonen eine Bibel verschenken und die Managerin von Blake sieht auch nach dem Rechten. Blake flüchtet vor deren Gesellschaft, so gut er kann. Er ist ein heruntergekommenes Drogenwrack, und nichts an dieser Drogengeschichte ist cool, freakig oder sonst irgendwie verklärt. Auch der Ruhm Blakes zeigt sich nur darin, dass ständig halbwegs ungebetene Gäste um ihn herumschleichen, Freunde und Schmarotzer sind nicht voneinander zu unterscheiden. Gus van Sant erzählt von diesen letzten Tagen Blakes episodenhaft, wobei die Segmente sich zeitlich überschneiden, und an den Schnittstellen verschiedene Perspektiven aufweisen. So sieht man bestimmte Szenen des Films doppelt, aber aus einer anderen Perspektive und zeitlich anders eingebunden. Kurz: Man sieht die Dinge 'mit anderen Augen'. Der Effekt wiederholt sich in ähnlicher Form auf der Tonspur. Denn einige Szenen weisen eine zweite Tonebene auf, in der die Geräusche, die offensichtlich zum Gesehenen gehören, von anderen Sounds überlagert werden, die nicht in die Szene passen, zumindest nicht zu der gerade angebotenen Perspektive. Neben dieser ungewöhnlichen, klischeefreien Darstellung der verzerrten Wahrnehmung eines Drogensüchtigen, thematisiert Gus Van Sant damit auch permanent, dass sein Film nur (s)eine Perspektive anbieten kann, versucht gleichzeitig aber mit dem Perspektivenspiel, diese Einschränkung wieder zu perforieren. Ein äußerst produktiver Widerspruch. ... nicht der BeliebigkeitLange Einstellungen und Kamerafahrten von hypnotischer Kraft und kontemplativer Wirkung, in denen der Zuschauer mehr sehen kann, als er auf der Leinwand zu sehen bekommt, bestimmen den Film. Van Sant emanzipiert den Betrachter zum Mitgestalter seines Films. Das ist in bestimmter Weise zwar immer der Fall - niemand sieht ganz genau den gleichen Film, die Wahrnehmung ist immer individuell - doch Van Sant tut alles, um diese Wahrnehmungsdifferenzen zu fördern. Es scheint, als würde er nur Vorschläge für eine Betrachtung machen, die zwar latent eine Richtung vorgeben, vor allem aber die Offenheit als Ziel anstreben. Das war schon im erstaunlichen Vorgänger "Elephant" der Fall. Dort waren es schier endlose Kamerafahrten durch ein Schulgelände, die geradezu eine Aufforderung waren, Aufmerksamkeit und Gedanken schweifen zu lassen, auch wenn Van Sant den Grundton vorgab. Der kommt in "Last Days" einer depressiven Junkieseele wohl näher als jeder andere 'Drogenfilm' in der Geschichte. Mit Beliebigkeit darf man diese Ästhetik nicht verwechseln. Seinen unbedingten Gestaltungswillen merkt man jeder Szene des Films an, der stets seine Handschrift trägt. Das ist das genaue Gegenteil des gewöhnlichen Hollywoodkinos. Dort gilt es vor allem, keine Handschrift zu zeigen, um formelhaft mit diversen Signalen die Emotionen des Publikums genau zu steuern. Van Sant entwickelt mit "Last Days" mehr denn je eine individuelle Handschrift, die vor allem darauf aus ist, eine möglichst individuelle Rezeption zuzulassen.
(Christian Meyer)
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