Victoria
Deutschland 2015, Laufzeit: 139 Min., FSK 12
Regie: Sebastian Schipper
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski
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Filmexperiment ganz ohne Schnitt
Spannung an einem Stück
„Victoria“ von Sebstian Schipper
Interview mit Darsteller Frederick Lau
Victoria ist noch nicht lange in Berlin. Die Spanierin ist Pianistin, doch nachdem sie ihre ganze Jugend dem Musikwunsch geopfert hat, bekommt sie am Konservatorium eine Abfuhr: Sie ist zwar gut, aber nicht gut genug. Sie solle das professionelle Klavierspielen besser an den Nagel hängen, rät man ihr. Wie so viele junge, vor allem aus Südeuropa stammende Menschen sucht sie ihr Glück im pulsierenden Berlin. Dort ist sie nun seit drei Monaten und jobbt schlecht bezahlt in einem schicken Café in Berlin-Mitte, statt ihr Geld am Klavier zu verdienen. Obwohl sie umgänglich und offen ist, hat Victoria in der Anonymität der Großstadt noch keine Freunde gefunden. Als sie nach einer einsamen Clubnacht auf ein paar altberliner Jungs trifft, die ebenso verloren zwischen kulturellen Hipstern und New Economy durch Berlin-Mitte stolpern, gerät sie innerhalb der kommenden zwei Stunden völlig unvorbereitet in ein dramatisches Abenteuer.
Wenn einer patzt, geht alles schief
Das klingt eigentlich nach einer herkömmlichen Dramaturgie eines relativ gewöhnlichen Spielfilms. Doch die gesamte Backstory der titelgebenden Protagonistin wird in einer einzigen, fünfminütigen Szene abgehandelt. Es ist ein kurzer Moment der Ruhe in einem Film, der über die restlichen 140 Minuten eine ganz außergewöhnliche Dynamik und Spannung entfaltet: In 140 Minuten erzählt Regisseur Sebastian Schipper („Absolute Giganten“, „Ein Freund von mir“) von 140 Minuten einer Nacht – in Echtzeit.
Schon oft hat Schipper seit der Uraufführung des Films auf der Berlinale kolportiert, dass ihm aus einem Gefühl der Langeweile heraus die Idee zu dem Film kam. Dass ihm an einem bestimmten Punkt klar wurde, dass ihm das Filmemachen nie ein solch aufregendes Gefühl vermitteln könnte, wie beispielsweise ein echter Banküberfall. Ein echter Banküberfall stand natürlich nicht zur Debatte. Er hätte dann auch auf die Idee kommen können, den emotionalen Mangel mit Bungee Jumping zu kompensieren. Aber er ist schließlich Regisseur. Die logische Folge wäre gewesen, einen Bankraub zu verfilmen. Doch Schipper weiß natürlich auch, dass das filmische Inszenieren eines Bankraubs emotional rein gar nichts mit einem echten Bankraub zu tun hat. Die logische Konsequenz aus all dem war: Einen Bankraub genau so zu filmen, wie er stattfindet, und zwar nicht auf der Ebene der Rezeption, also der Wirkung des Films – das kann beim Zuschauer vielleicht ähnlich viel Adrenalin freisetzen wie ein echter Bankraub. Sondern in der Art und Weise der Produktion. Und das gelingt natürlich am besten, wenn man ihn wie im wirklichen Leben ohne gebautes Setting, ohne großen technischen Apparat mitten in der Realität an einem Stück „durchzieht“. Damit entsteht eine ungewöhnlich große Anspannung innerhalb des kleinen Teams, vielleicht im Ansatz sogar vergleichbar mit dem Adrenalinschub bei einem Bankraub. Denn wenn hier nur einer ein einziges Mal patzt, geht alles schief.
Beeindrucken und berühren
Nach diversen Proben und Vorbereitungen hat die Crew um Sebastian Schipper drei komplette Durchläufe gemacht. Das heißt: Dreimal den gesamten Ablauf an 22 Locations vorbereiten. Dreimal eine Tour de Force für den Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, die sechs Regieassistenten und die drei kompletten Teams für den Ton. Dreimal 150 Komparsen im Griff haben. Und dreimal mussten die fünf Hauptdarsteller über zwei Stunden lang eine Spannung aufbauen, die den Film trägt.
Das klingt so, als wäre der Film alleine durch diesen logistischen Hintergrund von einzigartiger Bedeutung. Und es stimmt, dass es in der Filmgeschichte in dieser Radikalität keinen Film ohne Schnitt gibt. Alle Beispiele, die man anführen könnte – von Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ bis zu Alejandro González Iñárritus „Birdman“, der gerade in unseren Kinos lief, führen ein „Aber“ mit sich. Alleine Schippers Ein-Einstellungs-Experiment kommt ohne dieses „Aber“ aus. Hier gibt es tatsächlich keinen einzigen Schnitt und auch keine Tricks in der Postproduktion (außer ein wenig Filmmusik, die wohl über einen vermurksten Originalton gelegt wurde). Trotzdem kann auch Schippers Film nur gut sein, wenn er berührt. Und Leistung beeindruckt vielleicht, aber sie berührt einen nicht. Dass „Victoria“ berührt, liegt vor allem an Victoria. Und an „Sonne“, „Boxer“, „Blinker“ und „Fuß“ – beziehungsweise deren Darsteller, allen voran die Spanierin Laia Costa, die in jedem Augenblick im Bild zu sehen ist. Aber auch die Präsenz der Berliner Jungs, die alleine in ihrer Mischung aus Freundlichkeit, Bedrohlichkeit und Verlorenheit in ihrem Verhältnis zur Außenwelt, aber auch untereinander eine große Anspannung ausstrahlen, packt den Zuschauer sofort. Neben der Neuentdeckung Laia Costa setzt Schipper auf ein beeindruckendes Jungensemble: Frederick Lau hat als Sonne den größten Part zu bewältigen, die Neuentdeckung Franz Rogowski („Love Steaks“) spielt den bedrohlichen „Boxer“, und auch Burak Yigit und Max Mauff tragen ihren Teil zur Chemie der Jungsgang bei. Diese Chemie, die Dynamik, die der Film entfaltet – sie rechtfertigen auch den formalen Überbau des Films, der nie Selbstzweck ist.
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