We Need to Talk About Kevin
GB 2011, Laufzeit: 112 Min., FSK 16
Regie: Lynne Ramsay
Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell
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Alptraumhaftes Mutter-Kind-Drama
Blutige Tragödie
„We Need to Talk About Kevin“ von Lynne Ramsay
Die Reisejournalistin Eva lernt Franklin kennen – sie werden ein glückliches Paar. Mit der Geburt des ersten Kindes Kevin scheint dieses Glück zu enden: Eva gibt für die kommenden Jahre ihre Karriere auf, mit dem Abschied von ihrer Reiselust scheint auch ihre Lebenslust zu weichen. Schon im Kindbett wirkt sie wie versteinert, als sich der Säugling zum Schreikind entwickelt, schlägt die unterschwellige Depression in schiere Verzweiflung um. Einmal nutzt sie den Lärm eines Presslufthammers an einer Straßenbaustelle, um für einen kurzen Augenblick das Geschrei von Kevin zu übertönen. In der kommenden Zeit entfaltet sich ein Kräftemessen: Schon bald scheint Kevin mit voller Absicht das Nervenkostüm von Eva zu strapazieren. Es sieht aus, als verweigere er sich demonstrativ einer adäquaten Entwicklung. Seine Verweigerungshaltung schlägt bald in offene Aggression um. Der berufstätige Franklin kriegt davon kaum etwas mit, Eva um so mehr. Als Kevin eine kleine Schwester bekommt, die im Gegensatz zu Kevin für Eva ein echtes Traumkind ist, erfährt auch sie gleich die Aggression des Bruders. Derweil verstehen sich Vater und Sohn prächtig. Gemeinsam üben sie im Garten des großzügigen Anwesens Bogenschießen.
Von Anfang an eine Tragödie
Kevins Entwicklung von der Geburt bis kurz vor seinen 16. Geburtstag ist nur eine von drei Zeitebenen des Films. Einige wenige verstreute Bilder zeigen Eva vor der Geburt: entweder lachend mit Franklin, oder entrückt bei dem Tomatenfest Tomatina in Valencia. Hier sind die Bilder in ein prächtiges Rot getaucht, und dieses Rot ist einerseits die Verbindung zum Hauptplot und andererseits die Verbindung zur Gegenwart, in der wir Eva alleine,
ohne ihre Familie, sehen. Sie arbeitet nun nicht mehr in einem schicken Office, wie am Ende des Hauptplots, sondern in einem schäbigen Reisebüro. Sie wohnt nicht mehr in der großen Vorortvilla, sondern alleine in einem kleinen Häuschen. Die verschiedenen Handlungsstränge sind kunstvoll ineinander verwoben, die Tonspur verbindet sie mitunter auf surreale, fast alptraumhafte Art, die Bildmotive gleiten ineinander über. Die genauen Zusammenhänge entfalten sich dem Zuschauer zwar erst nach und nach, aber es ist schon früh klar, dass in der Beziehung zwischen Eva und Kevin nicht nur einiges schief läuft, sondern dass die Geschichte zielstrebig auf eine blutige Tragödie hinaus läuft.
Es gibt einen anderen, sehr artifiziell erzählten Film über aufs Schlimmste entgleiste Heranwachsende: Gus Van Sant hat seinen vage an das Schul-Massaker in Columbine angelehnten Film „Elephant“ multiperspektivisch angelegt. Auch er zerlegt die Chronologie der Ereignisse. Und er geht gegen eine simplifizierende Ursachensuche vor, zeigt, dass die amoklaufenden Täter gemobbt wurden und Ego-Shooter gespielt haben – dass sie aber auch wunderschön Klavier spielen konnten. Lynne Ramsay blendet in ihrem Film fast jeglichen sozialen Kontext jenseits der Familie aus. Und auch innerhalb der Familie dreht sich fast alles nur um das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Das liegt daran, dass alles, was wir als Zuschauer sehen, die Erinnerungsfetzen von Eva sind. Einer Mutter, der ihr Sohn von Anfang an fremd ist und die ihn als vorsätzlich böse wahrnimmt. Wenn der Zuschauer Kevin sieht, dann sieht er ihn mit Evas Augen. Im Gegensatz zu ihr kann der Zuschauer jedoch erkennen, dass in der Mutter-Kind-Beziehung von Anfang an einiges schief läuft. Eva selbst erkennt das erst nach und nach im Zuge ihrer Erinnerungsarbeit.
Scheinbar perfekte Familie
Anders als das monokausale Erklärungsmuster derjenigen, die die Familie als heiligen Gral der Gesellschaft verteidigen, sucht der Film die Ursachen und Übeltäter für die Tat nicht in Computerspielen oder Horrorfilmen. Der Film sucht die Schuld auch nicht ganz allgemein in der Gesellschaft, die kommt in diesem hermetischen Familienfilm nämlich gar nicht vor. Er konzentriert sich radikal und komplett auf die Familie, eben jenen vermeintlich guten, unschuldigen Kern der Gesellschaft. Mit dem Fokus auf die Mutter-Kind-Beziehung – der Vater kommt nur am Rande vor und glänzt vor allem durch Abwesenheit – geht der Film noch einen Schritt weiter. Während die Mutter den Gedanken des unschuldig geborenen Lebens in Frage stellt, stellt der Film provokant die Idee von grenzenloser Mutterliebe in Frage. Und stellt zugleich die Frage nach der Schuld in den Raum, ohne sie zu beantworten. Sowohl Lionel Shriver, die Autorin der Romanvorlage, als auch Lynne Ramsay liefern als mögliche Ursache nur das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie. Die Kleinfamilie – großes Haus in den Suburbs, glückliche, erfolgreiche Eltern und zwei Kinder – älterer Sohn und jüngere Schwester – alles sieht so perfekt aus. Doch ohne eine funktionierende zwischenmenschliche Beziehung ist all das nichts wert und kann direkt in einen Alptraum führen. Das langsame Abgleiten in diese Tragödie hat Ramsay mit Hilfe einer – wieder einmal atemberaubenden – Tilda Swinton und den drei Furcht erregend diabolisch agierenden Darstellern des heranwachsenden Kevin als visuell fesselnden, surrealen Alptraum inszeniert.
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