Wie übe ich, als weiße Europäerin, Kritik an einem Theaterabend, der mich als weiße Europäerin kritisiert, und das zu Recht? Eine Inszenierung, die mich dazu zwingt, einiges an meinem Alltag, an dem Land in dem ich lebe, neu zu befragen? Eine Arbeit, die den Finger in eine Wunde Europas legt, die längst nicht verheilt ist, sondern – ganz im Gegenteil – offen vor uns liegt? Wie funktioniert Theaterkritik, wenn nicht nur die gesehene Arbeit zu bewerten, sondern die eigene Sprech-Position im heutigen Europa in Frage zu stellen ist? In der Regel gehen Form und Inhalt Hand in Hand, das eine ist kaum ohne das andere besprechbar. In diesem Fall aber muss das Gesehene testweise genau in diese beiden Kategorien unterschieden werden.
Inhaltlich waren das Bochumer kainkollektiv und die KünstlerInnen aus dem Kameruner Theaterlabor OTHNI in Yaoundé mehr als gründlich. Um die Geschichte der Sklaverei zwischen Europa und Kamerun erzählen zu können, haben sie sich auf weite Reisen begeben – in vergessene Ecken Kameruns, die Tiefen der Geschichtsbücher, die Gedächtnisse der Menschen, die bis heute unter den Folgen des Sklavenhandels leiden oder (nicht zu vergessen) von ihm profitieren. Die KünstlerInnen haben gegraben bis ins Jahr 1607, in dem das erste Schiff beladen mit der „Ware Mensch“ Kamerun verlässt. Dieses Jahr ist gleichzeitig das Jahr, in dem in Mantua, Italien, die erste Oper der Weltgeschichte zur Aufführung gebracht wird.
Die so genannte Zivilisation feiert sich und ihre Kultur und startet gleichzeitig eine an Barbarei nicht zu überbietende Praxis. Eine Praxis, die bis heute Folgen hat, die aber – und das wird von den KünstlerInnen hervorragend und gnadenlos herausgearbeitet – keine Seite mehr wahr haben will. Regierungen auf beiden Kontinenten tun alles, um den Eindruck zu vermitteln, dass die heutige Zeit von allein so geworden ist, wie sie ist. Als hätte es Unterdrückung nie gegeben, als würde es sie heute nicht mehr geben. Und das ist genau der Punkt, der es so schwer macht, diesen Abend zu besprechen. Wie bewusst ist es den meisten Menschen wirklich, wer viele der Produkte unseres Wohlstandes produziert? Wie viele Rassismen wir täglich von uns geben, ohne es zu wissen oder zu merken? Die Frage „Wer ist heute verantwortlich?“ wird dem Publikum an diesem Abend mehrfach gestellt, womit wir bei der Betrachtung der Form angekommen wären.
Die zehn PerformerInnen sind gleichberechtigt auf der Bühne. Egal ob Musiker, Sängerin, Videokünstler, Tänzerin, Schauspieler. Auch bei Sprache und Hautfarbe – es wird kein Unterschied gemacht. Jeder und jede darf Krach machen, pöbeln, sich Raum nehmen, wird gehört und gesehen. Die Disziplinen, die Sprachen und die Hautfarben ergeben zusammen eine große Partitur. Das großartige Bühnenbild von „herrwolke“, bestehend aus unendlich vielen Plastikstühlen, ist ebenfalls eine Stimme in dieser „Oper(ation)“. Es gibt schöne Momente, wie ein gemeinsamer Tanz am Schluss, in dem sich Gesänge in der Bantusprache Ewondo von Madeleine Pélagie Nga Alima mit funky Musikelementen von dem Musiker Rasmus Nordholt-Frieling mischen. Oder wenn der Tänzer Antoine Effroy seinen wunderbar trockenen Humor unter Beweis stellt.
Beeindruckend wird es, als ein Video der Reise in Kamerun gezeigt wird: Die Gruppe treibt im strömenden Regen in einem kleinen Boot auf dem offenen Meer, um zu einem der Plätze zu gelangen, die dem Verfall und Vergessen anheim gestellt werden sollen: Die Insel Manoka, auf der ein von Deutschland gebauter Wachturm steht, der nach dem Ersten Weltkrieg in den Besitz Frankreichs ging und schließlich von Kamerun als Gefängnis für die eigene Bevölkerung genutzt wurde. Heute ist der Turm eine Ruine, in die Bäume gepflanzt wurden, die ihn nach und nach zerstören werden. Die Geschichte dieses Turms hätte bereits gereicht um mehrere Abende zu füllen.
Die KünstlerInnen wollen viel, aber dem Abend fehlt ein Zentrum, von dem aus er sich inszenatorisch entfalten kann. Die Fülle des Materials und der hohe politische Anspruch lassen dies vielleicht kaum zu – nichts desto trotz sackt der Gesamtrhythmus des Abends oft ab, in vielen Szenen müssen die PerformerInnen die Spannung aus dem Nichts neu aufbauen, vor allem im letzten Teil des Abends, der nicht weniger als vier gefühlte Finals hat.
Wünschenswert wäre eine Trilogie zum Thema bzw. dieser Zusammenarbeit von kainkollektiv und OTHNI. So würde der Druck, alles in einen Abend zu erzählen, entweichen. Und der nicht hoch genug zu schätzende Inhalt hätte mehr Luft, sich zu entfalten.
Fin de Mission: Ohne Auftrag leben | R: kainkollektiv / OTHNI | 11.&12.11. 20 Uhr | FFT Düsseldorf | www.fft-duesseldorf.de
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