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Der General der Zahlenkolonnen: Michael Meyer
Foto: Presse

Lebender Zynismus, sterbende Hoffnungen

23. Februar 2016

„Wassergeräusch“ mit Podiumsdiskussion in Mülheim – Theater Ruhr 02/16

Plötzlich stehen sie da, noch bevor das Licht im Saal erloschen ist: Die, die laut dem Mob nicht das Volk sind. Die, die überlebt haben. Und jene, die in Marco Martinellis grandiosem Fluchtdrama „Wassergeräusch“ für die Musik zuständig sind. Grandios deshalb, weil der italienische Theaterregisseur nicht auf den Pathos des Mitleids setzt, sondern auf ungeschminkte Kaltschnäuzigkeit. Der einzige Figur, die wir sehen, ist „der General“ (Michael Meyer), ein unappetitlicher Hybrid aus Frontex-Grenzschützer und Muamar al-Ghaddafi, kurzum: die personifizierte Abschottungspolitik.

 

Das Wichtigste ist diesem General: Zahlen. Zahlen und Ordnung: „Wir wollen eine Liste, wie es sich gehört.“ Eine Liste aus Zahlen, die der General, im Grunde weniger Militär als Bürokrat, den Toten zuordnen muss. Und die sind zahlreich: „An manchen Stellen stinkt das Meer nach totem Fleisch“. Nach dem toten Fleisch von Yussuf, dem “Großmaul“, der sich als Held aufspielen wollte, Hoffnungen nicht enttäuschen wollte, Schlepper wurde und mitsamt seinen Passagiere ertrank. Dem toten Fleisch von Jean-Baptiste. Den Kadavern der verschleppten Frauen, vergewaltigt und gefoltert, auf dem Weg übers Meer, gezwungenermaßen in die Betten der weißen Männer. „Eine wertvolle Fracht“, meint der General.

 

Der General keift und schreit auf seinem engen, aber ausgeleuchteten Podest mitten auf der um ihn dunklen Theaterbühne, keift und schreit an gegen die Musik und Gesänge von Kofi Mawuna Agbadohu, Jean-Baptiste Gama und Amandin Koue Manet. Hinten singt Hoffnung in einer uns unverständlichen Sprache, vorne lacht auf eine bisher unerhörte Weise der ständig verdrängte Zynismus. Ein starker Moment in einem der vielleicht besten Stücke zu diesem Thema, das ohne den allzu oft gehörten Mitleidsgestus das Drama Flucht in all seiner Fleischlichkeit erfahrbar macht.

 

Für das Stück recherchierte der Regisseur übrigens in Sizilien und sammelte dort auch die vom General verwalteten Fluchtschicksale.

 

Im Anschluss sprachen Dokumentarfilmer und Journalist Michael Richter, bekannt durch seine Reportage „Abschiebung im Morgengrauen“, und Journalist Jürgen Wiebicke vor und mit dem Publikum. Manches war bemerkenswert: „Ihnen fehlt die Empathie mit den Opfern der Islamisierung“, warf ein Mann Richter vor, der ein Kritiker der europäischen Abschottungspolitik ist. Empörung erhob sich im Theaterfoyer. Aber immerhin: Es findet Debatte statt – anstelle eines Selbstgespräches mit Gleichgesinnten.

Dominik Lenze

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