Schon mal über folgende Rechnung nachgedacht?: Ein PKW beansprucht durchschnittlich etwas mehr als 10 qm als Stellplatz. Diese Fläche wird Autofahrern überall durch öffentliche Parkplätze für ein paar Euro zur Verfügung gestellt; sieht man einmal von Parkplatzmangel ab, selbst in den begehrtesten Metropolengegenden von Manhattan bis Kreuzberg. Aber wie verhält es sich, wenn Menschen dort Raum für sich selbst, zum Wohnen und Leben, suchen? Da wird die Sache ja sofort ein ganzes Stück komplizierter (gemacht) – explodierende Mieten, 100 Mitinteressenten, man braucht Einkommensnachweis, saubere Schufa, Bürgschaften, und für manche wird die Nationalität oder Hautfarbe zum gewichtigen Nachteil. Wer ‚nur‘ Platz fürs Auto braucht, hat es da entschieden leichter. Fragt sich, soll das so, muss das so, will man das so?
Wenn Sie sich bei dieser Ungleichung nicht in möglichen Einwänden festbeißen: bei Wohnraum bezahlt man primär die Immobilie; Parktickets gelten nur ein paar Stunden; ein Stellplatz zu 2€/Std. liefe auf 1.500 € Monatsmiete (kalt) hinaus, was selbst in Tokio für 12qm WG-Zimmer kein Schnäppchen sein dürfte etc. Wenn Sie also nicht stur auf derlei Einwände beharren, sondern dem zweifelsfrei berechtigten Grundgedanken – trotz Wohnungsnot viel Stadtraum für KFZ reserviert – etwas abgewinnen können: Willkommen im Future Perfect Club!
Der Club ist eigentlich eine Theaterperformance, entwickelt von Mitgliedern des Kunststudierenden-Netzwerks Cheers for Fears. Die 7-köpfige Gruppe recherchierte hierzu zwei Jahre lang bei Personen und Initiativen, die professionell an alternativen Zukunftsmodellen arbeiten. Gewissermaßen als Antithese der gesamten Aufführung dient die vielgeschmähte Politikerrede von „alternativlos“ und „Sachzwängen“.
Die Bühne (Wiebke Strombeck) zeigt den Arbeitsraum des FPC mit Bürosektion, der „Possibilitäts-Plausabilitäts-Maschine“ und einem Bereich mit beweglichen Elementen. Hier werden die vier Darsteller etwa 100 Minuten lang mehr oder minder konkrete Zukunftsideen in aufeinander folgenden Themenbereichen aufgreifen, z.B. „Wirtschaft & Distribution“; „Mobilität“; „Linguistische Futurologie“ (Ernst Jandl lässt grüßen). Dabei übernehmen Jascha Sommer (auch künstlerische Leitung) und Ole Hübner (auch Musik) eher den textlastigen, diskursiven Part, während Saskia Rudat und David Guy Kono performativer orientiert sind und beispielsweise einige Textabschnitte von Sommer und Hübner choreographisch begleiten.
Als Ausgangspunkt der Kapitel dient jeweils ein kurzer Audioeinspieler aus den Interviews der Recherchephase. Bis hierhin hat man eigentlich alles richtig gemacht, denn die konkreten Ideen und kritisierten Aspekte am Status quo, die man von den Experten zu hören bekommt, sind durchaus interessant.
Leider bleibt das Zukunftslabor dann aber stecken – Fragestellungen wie die eingangs erwähnte, zur Verwendung städtischen Raums, werden aufgeworfen, aber nicht weiter verfolgt, vieles bleibt oberflächlich und manche Ideen wirken nahezu unbedarft. Etwa wenn das neue Regierungsoberhaupt in seinem Amtseid (Setting: TV-Show) gelobt, alle Finanzkraft für „die, die es am dringendsten brauchen“ einzusetzen. Ok, aber die entscheidende Frage ist doch, WER am dringendsten braucht. Obdachlose? Kinder aus „bildungsfernen Familien“? Krebsforschung? Banken, weil ein Bankencrash die Volkswirtschaft zerstören, somit die gesamte Bevölkerung verarmen lassen könnte? Das sind doch die interessanten Streitpunkte.
Der Hinweis im Programmheft, dass die befragten Experten selbst ins Stocken gerieten, wenn sie gesamtgesellschaftliche Auswirkungen ihrer Entwürfe und Ideen benennen sollten, reicht leider auch nicht, um die Kritik an einer zu oberflächlichen Auseinandersetzung gänzlich auszuräumen. Dass z.B. die Idee autofreier Innenstädte längst auf halbwegs breiter Basis diskutiert wird oder zumindest bekannt ist (nicht nur aufgrund fehlenden Wohnraums) und welche gestalterischen Ideen es dazu bereits gibt, müssen sich die Zuschauer selbst hinzudenken. Auch auf sinnlicher Ebene wird kaum ein visionärer Geist spürbar.
Was positiv in Erinnerung bleibt: ein sympathisch auftretendes Ensemble, die selbstironische Grundhaltung, eine perfekt getimte, großartige Sprechperformance und ein paar inspirierende Denkanstöße. Am Ende des Stücks kommt noch eine richtig schöne Idee in Form eines recht abgedreht bearbeiteten Volksliedes zum Zuge, ungefähr mit der Aussage: so ‚alternativlos‘ bzw. selbstverständlich uns Gewohntes auch erscheinen mag – alles lässt sich neu denken und anders umsetzen als bisher.
Oder wie es die Einstürzenden Neubauten ausdrückten: Was ist, ist; was nicht, ist möglich.
Future Perfect Club 2018 | 2.-4. Feb. Studiobühne Köln, 8. und 9. Feb. Maschinenhaus Essen, 27. und 28. Apr. German Stage Service Marburg | www.ringlokschuppen.ruhr
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