Die Atmosphäre ist schon spürbar, bevor das Stück losgeht: Grün schimmert der Urwald auf der Bühne im Consol-Theater, Dampf steigt aus den Sümpfen auf, die Natur ruht in sich. Doch dann kommt der Mensch: „Sie sind schon in Sichtweite“, meldet Cherub, der Paradieswächter seinem Herrn, dem Allmächtigen himself, in Szene gesetzt als greiser Tourismus-Visionär im Rollstuhl – und verbüfft vom durchschlagenden Erfolg seines Top-Produktes Paradies. „Warum machen die das? Denen geht’s doch eigentlich gut“, fragt sich die mannsgroße Puppe. Der Paradieswächter weiß es auch nicht, greift zum dringend nötigen Flachmann und geht an die Arbeit, als Reiseleiter ins „Reservat für gestresste Lebenssinnsucher“, in den von Hieronymus Bosch inspirierten, titelgebenden „Garten der Lüste".
Bis auf den von Marc Schnittger gespielten Paradise-Guide sind alle Hauptfiguren Puppen, jede ein Archetyp, grotesk überzeichnet, aber in all der Eindeutigkeit auch liebenswert: Der Kriegsveteran mit zerfetztem Körper und unbegrochener Soldatenehre, der unverbesserliche Weltverbesserer oder Susan Sonderberg von „Vanity Fair“ – genussvoll gehaucht, wie derMarkenname am Ende eines Werbespots. Doch das Etikett löst sich in der feuchten Luft von „God's Paradise“: Sonderberg entpuppt sich als Kellnerin, so wie der vermeintliche Künstler Kalinsky als Finanzbeamter mittlerer Laufbahn. Wer als zog nun an welchen Strippen, um diese seltsame Reisegruppe ans Ende der Welt zu bringen?
Angst und Gier, Egoismus und Ruhmsucht sind hilfreiche Instrumente für Puppenspieler. Doch der „Garten der Lüste“ hat auch eigene Lockmittel: Wenn nicht gleich als vom Reiseleiter geboten, hält der Eros früher oder später sowieso Einzug ins Tourismus-Erlebnis am Ende der Welt. Wahrscheinlich das einzig Natürliche, dass die Puppenmenschen wirklich schätzen – denn je unberührter die Natur ist, desto weniger wollen wir sie doch eigentlich. Es sei denn, es muss: „Ich suche Ginko-Wurzeln, die kenne ich aus dem Bio-Laden“, meldet der hungrige Weltverbesserer bei der Nahrungssuche.
Doch was soll die Mühe? Am Ende des grünen, dampfenden Tunnels wartet kein Licht, sondern der stinkende Sumpf, und gebucht ist gebucht. Ist die Sehnsucht nach Erlösung das Ergebnis von ausser Kontrolle geratenem Marketing? Oder bloß reine Projektion, eine fantasievolle Verdrängung der gnadenlosen Natur? Zeitlose Fragen, die sich beim Betrachten von Schnittgers grandiosem Puppenspiel stellen – und doch nur einige von zahlreichen Facetten. Gott stellt sich derweil die andere, immer gleiche Frage; verblüfft und etwas resigniert sitzt er in Hawaii-Hemd und Rollstuhl: „Wann kommen die nächsten?“. Paradieswächter Schnittger schaut ins Publikum: „Sie sind schon in Sichtweite.“
Das Stück war die letzte Abendveranstaltung der diesjährigen Gelsenkirchener Figurentheater-Wochen. In zwei Jahren soll die Reihe forgesetzt werden. Genau so wie das Gemälde von Hieronymus Bosch Teil eines Tryptichons ist, so ist auch Schnittgers Figurentheater-Adaption dreigeteilt: Eine weitere Inszenierung ist dem „Garten Eden“ gewidmet, die andere ließ sich von der „Musikalischen Hölle“ des spätmittelalterlichen Malers inspirieren.
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