Wer hätte das gedacht: Roberto Ciulli inszeniert ein neues Stück von Peter Handke. Seit „Kaspar“ hat dieser österreichische Rauner nicht mehr den Weg ins Theater an der Ruhr gefunden – und jetzt mit einem Stück über Kärnten, die slowenische Minderheit, die Sprache. Vielleicht liegt genau da der Grund. Handkes Stück „Immer noch Sturm“ verweist nicht nur im Titel auf Shakespeares „König Lear“. Ein alter Mann, der namenlose Ich-Erzähler, sitzt in der Heidesteppe im Kärntner Jaunfeld, und die Erinnerungen branden wie Wellen an die Gestade seines Bewusstseins. Es geht um die Jahre zwischen 1936 und 1948. Auf der großen Bühne der Erinnerung hält die gesamte Familie des Ich-Erzählers Einzug. Die Großmutter und der Großvater und die fünf Kinder: Da sind Valentin, der Frauenheld, oder der Apfelzüchter Gregor, der sich schließlich zusammen mit Schwester Ursula den Partisanen anschließt. Dann Benjamin, das Nesthäkchen, das es vor allem ekelt, und schließlich eine namenlose Schwester, die ein Kind mit einem Wehrmachtssoldaten zeugt: den Erzähler.
Der eher epische als dramatische Text ist von einer verblüffenden Leichtfüßigkeit, ohne raunenden Ton, ohne manieriertes Wortgeklingel. Handke hat dabei seine eigene Familiengeschichte verarbeitet, sie mit Welt- und Lokalgeschichte von der Drangsalierung der slowenischen Minderheit aufgeladen. Doch „Immer noch Sturm“ ist vor allem ein Text über die Sprache: die Sprache als Heimat, die Sprache als Kultur, letztlich gerinnt die Erinnerung selbst zur Sprache. Das ist die Bresche, durch die Roberto Cuilli Zugang zu Handkes Stück findet. Ein schmaler Kachelkorridor führt auf ein Krankenbett vor einem Fenster zu (Bühne: Gralff Edzard Habben), in dem der Ich-Erzähler liegt. Ein bedrohtes Refugium, liegt es doch in einem Aschefeld, das schon ein paar Kacheln aufgesprengt hat. Stühle, ein Tisch, eine Gartenbank stehen herum. Durch das Fenster wehen die Familienmitglieder herein, leibhaftige Gespenster der Geschichte, die den „Kümmerer“ aus dem Bett treiben. Volker Roos im blauen Anzug ist ein ruhiger, unaufgeregter Erzähler, der ohne Pathos die Erinnerungen hervorquellen lässt.
Ciulli inszeniert das verblüffend zurückhaltend, fast psychologisch, lässt der Sprache ihren Raum und verwebt sie behutsam mit zahlreichen kleinen szenischen Details. Überwältigend Petra van der Beek als Mutter mit roten Stiefeln, die gut Gelaunte, die gerne auf der Fensterbank sitzt oder sich ihrem kleinen „Bankert“ mit erotischer Zartheit zuwendet. Oder Valentins (Albert Bork) ungeheuer komisches Orakel auf den Werdegang des Erzählers. Berührend die Schmerzszenen, wenn Benjamin, Valentin und Ursula im Krieg sterben: Zunächst das lachende Erinnern an den Verstorbenen, später das sirrende Geheul der Frauen, das übergeht in die wütender Suada des Großvaters (Rupert J. Seidl) auf die „Deitschen“. Oder Gregors (Klaus Herzog) stille Entscheidung, zu den Partisanen überzulaufen und seine Rückkehr als bissiger Misanthrop. Nie allerdings überwölben die Szenen Handkes Text; Ciulli lässt dem Erzählen seinen Raum, macht es selbst zum Gegenstand des Abends, und das ist trotz mehr als drei Stunden Dauer ein so bewegendes wie erstaunliches Erlebnis.
„Immer noch Sturm“ von Peter Handke | R: Roberto Ciulli | Theater an der Ruhr Mülheim | 16.5., 19.30 Uhr | www.theater-an-der-ruhr.de
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