trailer: Herr Erath, Sie haben Violine studiert und als Orchestermusiker praktiziert. Wie kommt man aus dem Graben auf die Bühne zur Regie?
Johannes Erath: Im Nachhinein ist das schnell erklärt. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen und hatte gar nicht die Möglichkeit, ins Theater zu gehen. Theater fand im selbstgebauten Marionettentheater unterm Dach statt. Während meines Studiums in Wien war ich dann dafür jeden Abend im Theater. Und als ich im Orchestergraben saß, habe ich festgestellt: Die Bühne ist doch weiter weg, als mir lieb war. Mich hatte schon immer die Szene fasziniert. Eines Tages habe ich dann meinen ganzen Mut zusammengenommen, bin nach einer Generalprobe zu Regisseur Marco Arturo Marelli gegangen und habe gefragt, ob ich ihm hospitieren dürfte. Ich habe dann alles hinter mir gelassen, bin nach Paris gezogen, habe dort bei Marellis „Die Schweigsame Frau“ von Richard Strauss hospitiert, kam zu Willy Decker und wurde sofort dessen persönlicher Assistent. Und dann ging es rasant ...
Als Musiker haben Sie einen Vorsprung vor so manch anderem Regiekollegen. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Mein Vorteil ist vielleicht, dass ich in musikalischen Phrasen denke. Ich kann zwar Bilder als Kontrapunkt gegen Musik stellen, aber ich mache nichts, was gegen eine musikalische Phrase geht, weil mir das selber widerstreben würde. Ich atme mit den Sängern.
Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ist lange Zeit geringgeschätzt und belächelt worden: Die seltsame Handlung mit dem schlafwandelnden Mädchen in einem Schweizer Dorf galt als kaum vermittelbar. Vor 30 Jahren noch haben die Theaterleute die Augen verdreht und abgewunken. Das hat sich geändert ...
Ich muss gestehen, dass mir dieses Stück schon mehrfach angeboten wurde und ich habe immer abgelehnt. Beim vierten Angebot musste ich es dann doch wagen. Hanebüchene Libretti gibt es genug, da ist die „Sonnambula“ kein Einzelfall. Aber wenn man einen emotionalen Zugang findet, dann lassen sich gewisse Ungereimtheiten überwinden. Auf den zweiten Blick und beim intensiven Hören wurde mir unheimlich: Die Hermetik einer Dorfgesellschaft mit deren Mechanismen, Eskapismus in seinen unterschiedlichsten Facetten sind mir sehr vertraut. Aberglaube, Gespenster und die daraus resultierenden Rituale erzählen etwas über Verdrängtes, unsere Ängste und Sehnsüchte, und gerade da wird es für uns alle spannend.
Auch Bellinis Musik wurde lange Zeit nicht besonders geschätzt.
Bellini habe ich auch im Orchester gespielt. Damals hatten die gebrochenen Dreiklänge der Orchesterbegleitung auf mich keine große Wirkung. Doch das Geheimnis liegt bei Bellini in der Melodie. Das beginne ich jetzt erst zu verstehen, glücklicherweise. Bellini zu spielen ist eine Gratwanderung, bei der es banal werden oder abheben kann. Es ist die Frage, wie man musiziert.
In der großen Bandbreite Ihrer Inszenierungen tauchen immer wieder Werke auf, die um das Problem von Realität und Vorstellung kreisen wie Carl Maria von Webers „Euryanthe“, die Sie in Frankfurt inszeniert haben. Oder auch eine zeitgenössische Oper wie Peter Eötvös‘ „Angels in America“, die am Ende in eine andere Welt abdriftet ...
Stimmt! Aber was ist unsere Welt? Was ist Realität? „Die“ Realität gibt es nicht: Vor allem in einem Medium wie die Oper, in der Menschen zwanzig Minuten singend sterben oder sterbend singen. Das ist eine wunderschöne, aber absurde Verabredung. Oper beginnt doch genau da, wo das gesprochene Wort nichts mehr auszurichten vermag. Ich bin überzeugt, dass die surreale Form der Oper mehr über unsere Realität aussagt als ein vermeintlicher Realismus. Das Faszinierende an der Oper ist, dass sie die Zeit aushebelt. Wir können Zeit langsamer oder schneller laufen lassen und sie – vermeintlich – zum Stehen bringen. Das ist die Magie. Musik erzählt etwas über das Unheimliche, nicht Fassbare, das was über die Worte hinausgeht.
Susan Sontag sagt, Interpretation sei die Rache des Verstands an der Kunst.
Den Text eines Schauspiels habe ich erst einmal als puren Text. In einer Oper habe ich schon die erste Interpretation, weil der Komponist seine Emotionalität in der Musik ausgedrückt hat, und es darum geht, diese zu erspüren. Nur weil ein Wort einfach so dasteht, ist es noch nicht wahr. Wie oft wird in der Komposition relativiert, was in den Worten gesagt wird. In unserer Welt außerhalb der Oper sagen wir auch viel, was wir nicht so meinen. Die Antwort darauf, was wirklich gemeint ist, findet sich oft in der Partitur. Es geht um das „zwischen den Zeilen lesen“, denn das ist die Welt, die wir betreten, wenn wir in die Oper gehen.
Noch einmal zu „La Sonnambula“: Was entdecken Sie, was Bellini uns erzählen will?
Antworten zu liefern, finde ich wahnsinnig unspannend. Es geht mehr darum, Assoziationsketten auszulösen und die Menschen im Publikum zu verführen, selbst zu spüren, was das Werk mit ihnen macht, statt ihnen didaktisch vorzuführen, wie sie etwas zu verstehen haben. Meinem Empfinden nach ist Oper ein Medium für die Fantasie des Publikums. Mein Anliegen ist es, dem Publikum diesen Freiraum in sich zu öffnen, um sich berühren zu lassen, um zu staunen. Mir geht es aber auch darum, Fragen aufzuwerfen. Wenn alle Antworten geliefert sind, kann ich nach Hause gehen, habe den Abend aber auch schon an der Treppe wieder vergessen. Oft sind es doch die Punkte, an denen es hakt, durch die man anfängt, nachzudenken. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Mir geht es nicht darum, dass man alles „versteht“. Im Konzert versteht der Zuhörer auch nicht zu jeder Zeit, welcher Kosmos in der Musik steckt. Er hat auch nicht den Anspruch, alles zu verstehen, sondern kann sich der Musik einfach hingeben. Das wäre mein Wunsch auch in der Oper, sich hinzugeben, sich hineinziehen zu lassen, statt sich ständig zu fragen, ob man dies oder das jetzt verstanden hat. Wenn wir das schaffen, dann ist die Oper ein Wunder.
La Sonnambula | R: Johannes Erath | 26.2.(P), 4., 9., 12., 15., 18., 24.3. | Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf | 0211 892 52 11
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