Es ist eine wilde Zeit im Berlin der Weimarer Republik: Der erste Weltkrieg sitzt noch in den Knochen, doch auf den Straßen wird schon wieder gekämpft. Braune Rotten gegen rote Brigaden – zwischendrin tanzt der Teufel Samba. In diesem Tiegel inmitten einer Weltwirtschaftskrise mit rund sechs Millionen Arbeitslosen, aus dem bald die Nazis an die Macht gelangen, schreibt Erich Kästner 1931 seinen Roman „Fabian“ um die ungewöhnlichen Schicksalsschläge des promovierten Philologen Jakob Fabian. Der stolpert pleite mit seinem besten Freund Labude durch einen Rausch aus scheinbar freier Sexualität, Armut und Gier bis in sein finales Schicksal. Damals bekommt keiner was geschenkt – und Moral ist nur etwas für Verlierer.
Der junge Kästner spiegelt diese Zeit in seinem Milieuroman spitz und ohne Ressentiments, ohne ein Blatt vor dem Mund und ohne Verschleierung sexueller Neigungen. Das Buch wird damals zu einem Verkaufsschlager – allerdings nur mit Kürzungen und Veränderungen brisanter Stellen über Beischlaf und Politik durch den Verleger, der Angst vor der Obrigkeit bekam und um seinen Ruf fürchtete. Schon Kästner selbst schrieb in seinem Nachwort für die Sittenrichter: „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind“. Aber er stimmte den Veränderungen am Ende zu. Sven Hanuschek gab 2013 eine Rekonstruktion der Urfassung des Romans namens „Der Gang vor die Hunde hieß“ heraus, die auch schnell zu einem Bestseller wurde. Der lässt nicht nur einen unverfälschten Blick auf Kästners Berlin der Weimarer Republik zu, sondern auch ungekürzt auf seine bissige Federspitze.
An den Bochumer Kammerspielen hat Ende Januar Hanuscheks „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ Premiere, inszeniert von Schauspieler, Regisseur und Autor Thomas Dannemann mit Ensemble und Schauspielstudierenden der Essener Folkwang Universität der Künste. Gemeinsam planen sie eine musikalische Revue, die von einem ganz anderen Berlin als dem heutigen erzählt. Allerdings dürften auch Parallelen von damaliger Wirtschaftslage, Politik und Gesellschaft zu unserer Gegenwart eine Rolle spielen – genauso wie die braunen Schatten, die auch heute wieder länger werden.
Fabian oder Der Gang vor die Hunde | 31.1. (P), 1., 16., 19.2., 15., 27., 29.3. | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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