trailer: Herr Voges, das Schauspiel Dortmund gehört zu den Unterstützern der Kampagne „Erklärung der Vielen“. Was sind Ihre Beweggründe?
Kay Voges: Dieses kollektive Verhalten mit der Kampagne ist erst Mal ein Zeichen: Wir stehen als Kulturinstitutionen mit unserem freiheitlich-liberalen Denken ganz klar gegen einen Rechtsruck, denn es ist erschreckend, was da in kürzester Zeit passiert. Da müssen wir sagen: Wehret den Anfängen! Deswegen müssen wir laut auftreten. Nicht nur dagegen argumentieren, sondern auch erzählen, was das Kostbare unserer Freiheit und Diversität ist.
Ein Ziel der Erklärung ist der „Zusammenhalt in Kunst und Kultur als Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements“. Welchen Beitrag leistet die Kunst?
Die Kunst ist die fünfte Macht im Staat. Wir haben die Judikative, Exekutive, Legislative und die Presse. Dann kommt die Kunst, die ein reflektierendes Organ ist, ein Ort des Diskurses über die politische Gegenwart und Zukunft, ein Versuchslabor für Utopien. Wir sind keine Partei, keine Kirche, sondern ein Ort, wo die Gesellschaft zusammenkommt. Dieser Ort muss gedankenfrei sein. Freiheit, das sehen wir gerade, ist gar nicht mehr selbstverständlich wie etwa in Polen, Ungarn oder der Türkei. Und die kulturpolitischen Planungen der AfD machen einem wirklich Angst und Bange. Die Wahrscheinlichkeit, dass früher oder später irgendwelche Städte auf einmal einen Kulturdezernenten der AfD haben, ist leider gar nicht mehr so gering.
Wie konkret ist die kulturpolitische Einflussnahme von Rechtspopulisten?
Man versucht, ein Szenario der Angst zu kreieren. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auf unsere Grundwerte konzentrieren und sagen: Es gibt die Meinungs- und Kunstfreiheit. In den Kulturinstitutionen werfen wir Fragen auf: Wie wollen wir ein friedliches Morgen erzielen? Wie schaffen wir, integrativ die gesamte Gesellschaft zusammenzubinden? Wie können wir über unsere eigenen, deutschen Perspektiven hinausblicken und welche aus anderen Kulturen mit hineinnehmen? Genau das Gegenteil ist in diesen rechten Sehnsüchten vorhanden.
Haben Sie oder KollegInnen bereits Vorstöße von Rechts erlebt, etwa was die Programmplanung betrifft?
Auch uns erreichten irgendwelche Anfragen. Die AfD wollte Stellungnahmen zu Arbeiten von uns. Aber hier in NRW ist es, Gott sei dank, noch eine Ausnahme. Ich weiß aber, dass es bei Kollegen in Brandenburg oder Sachsen wesentlich häufiger vorkommt.
In Dortmund gibt es eine militante Neonazi-Szene. Als Stadttheater haben Sie etwa 2016 die Spiegelbarrikaden-Aktion gegen einen faschistischen Aufmarsch initiiert. Wie sieht Kunstproduktion in Zeiten des Rechtsrucks aus?
Wir haben in den letzten Jahren permanent Themen der Gegenwart auf die Bühne gebracht, etwa über die Fluchtursachen und die Verantwortung der Bundesrepublik in Syrien. Oder die Frage: Wie können wir Perspektiven aus nichteuropäischen Ländern in die Diskussion miteinbringen? Zum Rechtsruck in unserer Stadt haben wir uns klar verhalten. Das kann bedeuten, als Kulturschaffende an den Demonstrationen teilzunehmen oder ein Aufklärungsdiskussionsprojekt zu machen. So wie bei der Spiegelbarrikade. Da haben wir gemeinsam an einem künstlerisch-aktivistischen Protest gearbeitet. Um mit Schulen, Gewerkschaften oder Kirchen ein künstlerisches Zeichen gegen rechte Aufmärsche hier in der Stadt zu setzen. Somit ist es schon für uns eine Selbstverständlichkeit, für eine freie und offene Gesellschaft zu kämpfen.
Besteht diese offene Gesellschaft denn noch aus Vielen? Oder erleben wir bereits eine Zäsur?
Zurzeit ist die Mehrheit der Bevölkerung und der Kulturschaffenden in einer stärkeren Situation. Trotzdem scheint diese Verführbarkeit hinter diesem rechten und extremst konservativen Gedankengut an vielen Orten auf fruchtbaren Boden zu stoßen. In Dortmund haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, in einer komplexer und globalisierter werdenden Welt daran zu arbeiten, wie die Gesellschaft von Morgen aussehen kann. Wenn die Welt komplexer wird, ist die Lösung dafür nicht, mit Populismus und Polemik darauf zu reagieren und sich immer mehr abzuschotten. Vielleicht sind die Kulturinstitutionen eine Schule für Komplexität und ihre Schönheit. Dafür wollen wir eintreten, um hier die Gegenwart verständlicher und reichhaltiger werden zu lassen. Es geht um die Chance, diese Vielfalt zu präsentieren, anstatt der Reduktion von Wahrheit auf Populismus.
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