Die Deutsche Reichspost unter Kaiser Wilhelm II. sei ein „Muster sozialistischer Wirtschaft“, ein „Mechanismus gesellschaftlicher Wirtschaftsführung“. Das schrieb der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin um die Jahreswende 1917/18 in „Staat und Revolution“. Lenin ist voll des Lobes für den reibungslosen Ablauf und die Genauigkeit der logistischen Planung der Reichspost, beklagt aber die „bürgerliche Bürokratie“ im Postbetrieb ebenso wie die „Ausbeutung der einfachen Werktätigen“. Dennoch wollte er in der wilhelminischen Post eine Planwirtschaft avant la lettre erkennen.
Heute, rund 100 Jahre später, sind gesellschaftlich progressive Kräfte begeistert von durch digitale Technik getriebenen logistischen Meisterleistungen von Internet-Giganten wie Amazon. Die Bewunderung erstreckt sich jedoch nicht auf deren privatwirtschaftliche Verfasstheit. Die beiden kanadischen Autoren Leigh Philipps und Michal Rozworski sehen in Amazon & Co. eben jene Planwirtschaft, die Lenin in der wilhelminischen Post zu erkennen glaubte. Und in der Tat, Amazon vollbringt Wunder an Koordination und Kalkulation im Bestreben nach optimierter Produktion und Distribution. Die „Fulfillment-Center“ genannten Versandlager und Logistikzentren des Online-Giganten halten regelmäßig jene Waren bereit, von denen der einzelne Konsument noch gar nicht weiß, dass er sie in Kürze bestellen wird. Das gelingt mittels „Big Data“, analysiert durch den firmeneigenen Algorithmus. „Planwirtschaft ist nicht nur möglich“, konstatieren die beiden Autoren, „sondern bereits überall um uns herum da“.
Sozialistische Datenwirtschaft
Der neoliberale Vordenker Friedrich August von Hayek würde sich angesichts solcher Äußerungen im Grabe herumdrehen. Hayek argumentierte Mitte des 20. Jahrhunderts, dass es in einer komplexen arbeitsteiligen Ökonomie wegen des Fehlens eines „allwissenden Akteurs“ Preise und freie Märkte brauche. Nur so kämen die Marktakteure zu den Informationen, die einen effizienten Rohstoff- und Kapitaleinsatz ermögliche. Hayek hatte Erfolg, der Markt gilt gemeinhin als „allwissendes Informationssystem“. Das damit verbundene Versprechen, allen werde es besser gehen, wird jedoch immer stärker ins Gegenteil verkehrt.
Doch Hayek war vor Big Data. Die gewaltigen Kunden- und Nutzerdatensammlungen und das Vorhandensein der Technik, diese auch produktiv zu bewirtschaften, könnten ein ungeahntes emanzipatorisches Potenzial entfalten, würden sie nicht ausschließlich, in hierarchisch und undemokratisch strukturierten Privatunternehmen, zur Profitmaximierung eingesetzt. Diese Struktur arbeitet jedenfalls klar gegen die Interessen der Beschäftigten.
Fünfjahrespläne mit neuer Rechenpower
Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht die Technik, nicht die Datensammlungen, und auch nicht die Algorithmen das eigentliche Problem darstellen, warum unsere heutige Wirtschaft nicht vernünftig verfasst ist. Vielleicht ließe sich sogar die These aufstellen, dass die Fünfjahrespläne im realexistierenden Sozialismus deshalb krass scheiterten (gemessen an ihrem Anspruch von vernünftiger Planung, Überwindung der Ausbeutung von Mensch und Natur sowie einem guten Leben für alle), weil ausreichend Rechenleistung fehlte. Nicht auszudenken, wie erfolgreich die Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts womöglich gewesen wären, hätte Lenin über ein MacBook mit stabilem W-Lan verfügt. Dem oft gleichzeitigen Auftreten von Mangel und Verschwendung in den sozialistischen Staaten, wäre womöglich mit ein paar Mausklicks beizukommen gewesen.
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