Es sind Abende wie dieser 09.01., an denen sich der große Unterschied zwischen einer engagiert inhabergeführten Buchhandlung und einem von Algorithmen dominierten Internetriesen zeigt: Als Buchhändlerin Elisabeth Röttsches auf der Bühne des Literaturhauses Herne-Ruhr ihren Gast vorstellt, glaubt man ihr sofort, dass „Max“ zu ihren aktuellen Lieblingsbüchern zählt und man weiß, dass der Saal deshalb bis auf den letzten Platz gefüllt ist, weil sie in den vergangenen Wochen mit Begeisterung für dieses Buch und diesen Autor geworben hat. Und Markus Orths soll weder seine Gastgeberin noch sein Publikum enttäuschen.
Schon in seinem letzten Roman „Alpha & Omega“ machte Markus Orths einen realen Künstler zum Romanhelden, indem er den Bochumer Performance-Künstler Matthias Schamp nicht weniger als die Welt retten ließ. Schamp, seit vielen Jahren mit dem Autor befreundet, hat sich weitestgehend unerkannt unter das Herner Publikum gemischt. Während „Alpha & Omega“ mit seinem irrwitzigen Mix aus Science Fiction, anarchischem Witz und absurdesten Wendungen unzweifelhaft ein junges Publikum ansprach, wendet sich das neue Werk eher an ein kunstaffines Bildungsbürgertum, wie der Blick in die Runde verrät.
Der schlicht „Max“ betitelte Roman erzählt das Leben des Künstlers Max Ernst. Er zeichnet seine künstlerischen Einflüsse und Entwicklungen nach und seine Künstlerfreundschaften – vor allem aber widmet er sich den Frauen in Ernsts bewegtem Leben. Markus Orths definiert die Lebensabschnitte Ernsts über die wechselnden Musen, Liebhaberinnen und Ehefrauen des Künstlers, was den Roman in sechs große Abschnitte gliedert.
Zu Beginn seiner Lesung lässt Orths Max Ernst als Besucher einer psychiatrischen Anstalt auf die künstlerische Arbeit eines Patienten stoßen und schildert die Faszination, die die Kunstwerke von „Geisteskranken“ auf den jungen Psychologiestudenten ausüben. Es ist eine der erzählerischen Freiheiten, die sich Orths erlaubt, wenn er einen dieser psychisch Kranken zu späterer Zeit bei einer legendären Ausstellungseröffnung wieder auftreten lässt. Insgesamt aber fühlt sich der Autor, wie er im anschließenden Gespräch mit dem Publikum bekräftigen wird, den realen Personen seiner Geschichte gegenüber verpflichtet.
Auch wenn in zweimal 45 Minuten nur Schlaglichter auf den 568 Seiten umfassenden Roman geworfen werden können, wirkt die Lesung wie aus einem Guss, die Überleitungen verknüpfen die einzelnen Handlungsfäden gekonnt. Das Publikum folgt Markus Orths durch die Gräben des ersten Weltkriegs, in die Keimzellen des Kölner Dada und des Surrealismus, macht die Bekanntschaft mit Luise Straus, Gala Éluard, Marie-Berthe Aurenche, Leonora Carrington und Peggy Guggenheim. Insbesondere die Passagen um die schillernde Kunstmäzenin entlocken dem Publikum einige Lacher. Furios schließt Orths seine Lesung ab mit einem (fiktiven) Brief Hans Arps an Max Ernst, in dem die Bedrohung durch den Nationalsozialismus und die tiefe Sorge um den Freund greifbar wird, aber gleichzeitig der Wortspieler Arp über die dadaistischen Stränge schlägt, dass es für Vorleser und Zuhörer gleichermaßen zu einem Vergnügen wird. Den Leser des Romans erwarten nach dieser Stelle noch rund 200 Seiten und die Bekanntschaft mit Ernsts vierter Ehefrau, Dorothea Tanning…
Eine der großen Qualitäten von Markus Orths ist das Gespräch mit dem Publikum. Hier muss kein Moderator quälende erste Fragen stellen, Orths schafft selbst eine lockere Atmosphäre, in der die ersten Finger zügig in die Höhe gereckt werden. Er erzählt, wie die Idee des Romans aus dem Projekt „Museumsschreiber NRW“ des Literaturbüros NRW hervorging, das ihn ins Max Ernst Museum in Brühl verschlug und in dessen Rahmen er zunächst lediglich eine Erzählung schrieb. Doch das Leben Ernsts und die Menschen in seinem Umfeld übten immer größere Faszination auf Orths aus, so dass er tiefer in die Biographie eintauchen wollte. Bereitwillig gibt er Einblicke in seine Recherchen, schildert, wie ihn die Arbeit mit realen historischen Figuren in seinem Schreibfluss, der sonst sehr schnell ist, gebremst hat. Und angeregt durch eine Frage aus dem Publikum erzählt er von einem Handlungsstrang, der in der Lesung keine Rolle spielte, von einem bewundernswerten Mann: Dem Amerikaner Varian Fry, der mit einem Rettungsnetzwerk in Marseille rund 2.000 Menschen die Flucht vor den Nazis ermöglichte, darunter Hannah Ahrendt, André Breton, Marc Chagall, Marcel Duchamp, Lion Feuchtwanger oder Heinrich und Golo Mann – in einer Zeit, als der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag de facto das Recht auf Asyl in Frankreich außer Kraft gesetzt hat. Der Applaus an dieser Stelle beweist, dass das anwesende Publikum nicht an historische Verantwortung erinnert werden muss.
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