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Lusungu Mbilinyi wuchs in Tansania und Deutschland auf
Foto: Dino Kosjak

Bukavu entscheidet

31. Januar 2020

Afrikas Gegenwart diskutiert in Herne – Spezial 01/20

Mit einer persönlichen Anekdote brachte Martin Domke ein grundsätzliches Problem auf den Punkt, wenn über Afrika gesprochen wird. Als der Leiter des Eine Welt Zentrums Herne im vergangenen Jahr zum ersten Mal den Norden des Kontinents besuchte, fragte er sich selbst, ob er wirklich in Afrika sei. So gewaltig schienen ihm die Unterschiede zu den Regionen im Osten, die ihm seit langem vertraut sind. Er fuhr fort mit der Frage, ob es das eine Afrika überhaupt gebe, den Kontinent also, den wir zwangsläufig im Singular benennen. Domkes Botschaft lautet gewiss nicht, dass andere Kontinente und Weltgegenden eintönig oder einheitlich seien und über sie vereinfachend gesprochen werden solle. Wer möchte beispielsweise behaupten, in Europa sei alles einerlei? Vielmehr: Die Geschichte des Rassismus und Kolonialismus und die weiterhin verbreiteten Klischees mahnen, über Afrika besonders bedachtsam zu sprechen.

 

Diesem Anspruch wollen das Eine Welt Zentrum und das Literaturhaus in Herne mit der Reihe „Die Farben Afrikas“ gerecht werden. Den Anfang machte nun ein Gespräch zwischen dem Moderator Martin Domke, Lusungu Mbilinyi und Gesine Ames. Der aus Tansania stammende Lusungu Mbilinyi, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche, ist derzeit Studienleiter im Bildungszentrum der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in Wuppertal. Als Fünfjähriger kam er erstmals nach Deutschland und wuchs unter anderem in Bielefeld-Bethel auf. Gesine Ames ist Koordinatorin des in Berlin ansässigen Ökumenischen Netzes Zentralafrika (ÖNZ), das mit Kirchen und zivilen Organisationen in der DR Kongo, in Ruanda und in Burundi zusammenarbeitet. Merklichen Dissens oder gar Streit konnte das zahlreich erschienene Publikum im Literaturhaus nicht erwarten. Stattdessen ging es darum, aus erster Hand Eindrücke von aktuellen Entwicklungen zu erhalten.

 

Über Kolonialismus schon im Kindergarten aufklären

 

Die eingangs von Domke gestellte Frage, wie es um eine gemeinsame Identität Afrikas stehe, nahm zunächst Mbilinyi auf. Aus seiner Schulzeit in Tansania erinnere er den Leitspruch: „Alle Menschen sind unsere Verwandten“, was auch für die Idee eines gemeinsamen Afrikas stehe. Fremdheit innerhalb Afrikas habe er allerdings ebenfalls erfahren. Das Leben des Großvaters, im nicht allzu fernen Sambia, sei ihm bereits als andere Welt erschienen. Und geradezu sprachlos habe ihn später ein Erlebnis im benachbarten Kenia gemacht, wo Kinder einen fordernden Ton gegenüber Erwachsenen anschlugen. Undenkbar in Tansania, so Mbilinyi. Auch Essen, Architektur, Politik oder neue Bedeutungen vertrauter Wörter sorgten immer wieder für Staunen.

 

Lusungu Mbilinyi, Gesine Ames und Martin Domke, Foto: Dino Kosjak

Damit an die Stelle der Klischees das angemessene Bild eines vielfältigen Afrikas treten kann, brauche es einen „dekolonialen Blick“, betonte Ames, einen selbstkritischen Sprachgebrauch und ein Bewusstsein dafür, dass Handlungen in einer globalisierten Welt globale Auswirkungen haben. Auch müsse die Aufklärung über die deutsche Kolonialgeschichte schon im Kindergarten beginnen und afrikanische Literatur Eingang in die Schullehrpläne finden.

 

„Wie funktioniert Menschenrechtsarbeit?“, leitete Domke zu einem neuen Aspekt über. Für die Koordinatorin Ames bedeutet das zunächst, in den betreffenden Regionen Kontakte zu Menschen zu suchen, die sich selbst für Menschenrechte einsetzen und Vertrauen aufzubauen – über Jahre hinweg. Nur so dürfe sie als privilegierte und außenstehende Europäerin hoffen, von den Menschen vor Ort ernst genommen zu werden. Darauf folge die Lobbyarbeit, in Deutschland wohlgemerkt, seien Gespräche zu suchen mit Ministerien oder Stiftungen, beispielsweise, um problematische Details in Verträgen zum Rohstoffhandel zu hinterfragen oder auf die Freilassung eines inhaftierten Journalisten zu drängen.

 

Der Pfarrer Mbilinyi berichtete von seinen Erfahrungen in interreligiösen Dialogen mit Jugendlichen auf Sansibar. In ihrer Impulsivität seien Jugendliche vergleichsweise leicht zu instrumentalisieren, erklärte er, gegen andere Glaubensgruppen aufzuhetzen. Durch Gespräche, gemeinsame Unternehmungen und Sport, versuche er, sie einander als Menschen nahezubringen, nicht als Gläubige – sodass die Idee abwegig wird, einander etwas anzutun. Ob das funktioniere, hakte Domke nach. „Nicht immer“, räumte Mbilinyi ein, „aber jeder Erfolg ist ein Grund, weiterzumachen“.

 

Wann Menschenrechtsarbeit gefährlich wird

 

Mit der Frage der Rohstoffe, rückte ein Problem in den Mittelpunkt, das Ames schon angedeutet hatte: die Wechselwirkungen einer globalisierten Wirtschaft. Unsere Technik vom Auto bis zum Smartphone basiert nicht zuletzt auf Seltenen Erden wie Kobalt oder Coltan. Wie steht es hier um die Menschenrechte, genauer um die Abbaubedingungen? Immerhin von „punktuellen Verbesserungen“, wusste Ames zu berichten. Das bedeute, das es inmitten von Konfliktgebieten einzelne Minen beispielsweise im Osten der DR Kongo gibt, in denen unter konfliktfreien Bedingungen gearbeitet wird.

 

Gesine Ames koordiniert Menschenrechtsarbeit, Foto: Dino Kosjak

Ames betonte: Bei aller Kritik an schockierenden Arbeitsbedingungen, müsse bedacht werden, dass der Rohstoffabbau entscheidend zum Einkommen der Menschen in der Region beträgt; zumal angesichts einer maroden Landwirtschaft. Ein Boykott sei darum keine Lösung. Seit der Jahrtausendwende sei immerhin das öffentliche Bewusstsein für diese Probleme gewachsen, sodass mittlerweile die Autoindustrie zuweilen selbst das Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen suche. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie seien aber niemals ausreichend. Die Politik müsse vorschreiben, ganze Lieferketten durchsichtig zu machen. Auch in den Herkunftsländern der Rohstoffe gebe es erste Verbesserungen in den Bergbaugesetzen – deren Durchsetzung sei damit aber längst nicht gewährleistet. Hier schließlich sei auch eine rote Linie für Menschenrechtsarbeit gezogen: Recherchen im Umfeld des Bergbaus, die Frage nach Konzessionen, sprich: der Spur des Geldes, können „enorm gefährlich“ werden, so Ames.

 

Ein zwiespältiges Bild zeichnete auch Mbilinyi. In Tansania gebe es ebenfalls Rohstoffgewinnung, die nicht aus Ausbeutung basiere. Damit einher gehe aber eine besorgniserregende Umweltverschmutzung, die auch Arbeiter lebensgefährlichen Giften aussetze. Durch eine letztlich ungerechte Verteilung der Gewinne, bestehe außerdem weiterhin extreme Armut.

 

Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung Afrikas sind Jugendliche; je nachdem, wie die Altersgrenzen bestimmt werden, stellte Martin Domke fest. Damit wandte sich das Gespräch der Frage nach dem Lebensgefühl eines jungen, eines jugendlichen Kontinents zu. Schmunzelnd nannte sich Mbilinyi, Ende 30, einen Jugendlichen. Seit der vorkolonialen Zeit zähle in Tansania zur Jugend, wer zwischen 16 und 40 Jahren alt ist. In diesen Jahren habe man zu arbeiten. Wer jünger sei, bleibe Zuhause, wer älter, ruhe aus und treffe die Entscheidungen.

 

Der jugendliche Kontinent

 

Die Jugend sei für Afrika eine große Herausforderung, fuhr Mbilinyi fort. Schulklassen mit 90 Kindern und mehr seien keine Seltenheit, es mangele an Lehrern, Schulen oder Büchern. Die Bevölkerung wachse schneller als die Ressourcen. Allerdings sei Afrika darum auch ein „sehr lebendiger“ Kontinent, der offen ist für neue Ideen und insbesondere die Chancen der Digitalisierung begriffen hat. Afrikanische Musik beispielsweise habe es nicht nur in die Spotify-Favoritenliste von Barack Obama geschafft, sei kein Geheimtipp für Liebhaber im globalen Westen mehr, sondern längst global.

 

Martin Domke sucht neue Wege, über Afrika zu reden, Foto: Dino Kosjak

Auch das politische Denken profitiere von der leichten Verbreitung durch das Internet, führte Ames den Gedanken fort. Das gelte zwar einerseits für die Ideen von islamischen Fundamentalisten aus dem arabischen Raum oder von christlichen Fundamentalisten aus den USA. Es gelte aber andererseits für das Ideal des gewaltlosen Widerstands nach Gandhi oder der Gleichheit nach Mandela: inspiriert durch solche demokratischen Ideen forderten Jugendliche ein selbstbestimmtes Leben ein, nähmen sozialen Druck in Kauf, wenn sie für freie Partnerwahl eintreten, für das Recht auf sauberes Wasser oder einen Berufsmarkt ohne Geschlechterdiskriminierung. Das fordere ihr „großen Respekt“ ab, betonte Ames.

 

Mit Blick auf seine Bemerkungen zur Umweltverschmutzung, fügte Mbilinyi hinzu, dass auch die ökologische Herausforderung in der Jugend angekommen ist. Gerade gebildete Jugendliche träten ein für einen Kontinent, der durch Industrie und Konsum nicht zugrunde gerichtet werden darf. Auch hiermit sei außerdem der Anspruch verbunden, Konflikte zu lösen und Frieden zu schaffen.

 

Ebenfalls schon zu Wort gekommen war die Musik, und auch hierauf kam Moderator Martin Domke noch einmal zurück. Mbilinyi brachte das Publikum zum Lachen, als er sich umgehend als schlechter Tänzer outete; als der musische Unterricht anstand, habe er notgedrungen die Gitarre gewählt. Wer kennt nicht das Klischee des Afrikaners, der „Rhythmus im Blut“ habe? Wie gut gemeint es auch sein mag, es bleibt rassistisch.

 

Kunst des Widerstands

 

In Tansania verrate die Musik, welche Stimmung in einem Dorf herrsche, fuhrt Mbilinyi fort. Musik und Tanz begleiteten das Leben. Und sie habe ein politische Rolle: Wo Versammlungen von den Mächtigen untersagt würden, dort fände der Widerstand musikalischen Ausdruck. Ames berichtete von Spoken-Words-Poetry- und Hip-Hop-Veranstaltungen in Goma, auf denen Jugendliche sich mit der eigenen Identität und der Gesellschaft auseinandersetzen. Das entspricht freilich der Rolle, die Musik in emanzipativen Bewegungen überall auf der Welt spielt. Allerdings gilt das auch für die Kehrseite: Musik in Afrika werde ebenso von restriktiven Regierungen zur Eigenwerbung instrumentalisiert, so Ames. Es seien kleine Bewegungen, die in die Freiräume vorstoßen, die ihnen diese Regierungen lassen. Hier entwickelten sie eine bemerkenswerte Energie.

 

Das gelte auch für die Literatur, fuhr Ames fort. Das Afrika-Bild der Bücher von Stefanie Zweig oder Henning Mankell sei zu überwinden. Stattdessen empfahl sie dem Publikum, sich den Generationen afrikanischer Literatur zuzuwenden, die zu einem guten Teil in deutscher Übersetzung vorliegen, darunter moderne Fantasy, die keinen internationalen Vergleich zu scheuen brauche. Den aus Nigeria stammenden Chinua Achebe nannte sie nicht. Der 2013 verstorbene „Vater der modernen afrikanischen Literatur“ bedarf in diesem Rahmen vielleicht keiner Empfehlung mehr.

 

Foto: Dino Kosjak

Mehrfach hatte Martin Domke Gelegenheit, zu bedauern, dass keine Zeit sei, einzelne Aspekte angemessen zu diskutieren. Die beiden Gäste mussten sich kurz fassen, Beispiele konnten nur aus wenigen Ländern stammen, weitere Gäste hätten womöglich widerstreitende Perspektiven beisteuern können. Aber zwei Stunden genügen ohnehin nicht, auch nur irgendeine Frage umfassend zu diskutieren. Der selbst erhobene Vorwurf, einseitig über Afrika zu sprechen, fällt darum gewiss nicht auf diesen Abend zurück. Im Gegenteil, der unaufgeregte Tonfall der kompetenten Gäste kann sehr gut dazu beitragen, Klischees abzutragen und Verständnis für neue Entwicklungen zu schaffen.

 

Ein Besucher fragte, was man selbst nun besser machen könne? Die eine große Antwort musste auch hier zwangsläufig ausbleiben. Aber den eigenen Konsum hinterfragen, Fair Trade den Vorzug geben und durch eigene Begegnungen Vorurteile abbauen – das sei doch ein Anfang, so Lusungu Mbilinyi. Gesine Ames empfahl, die Abgeordneten im eigenen Ort auf Missstände anzusprechen; im Gegensatz beispielsweise zum Bundesfinanzministerium seien sie persönlich erreichbar und auch ihre Erfahrungen mit Bürgern und Bürgerinnen wirkten langfristig auf die große Politik.

 

Selbstkritisch beschloss Martin Domke den Abend. Das Eine Welt Zentrum Herne blickt auf eine fast 40-jährige Partnerschaft mit dem Kirchenkreis Bukavu zurück, im äußersten Osten der DR Kongo. Von der Idee, die Deutschen wüssten am besten, was die Freunde in Zentralafrika brauchen, sei man abgekommen. Was zu tun sei und wobei man helfen dürfe – das müsse Bukavu entscheiden.

Dino Kosjak

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