Peter Prange gestikuliert beim Erzählen, als würde die „JU52“ gerade über ihn hinweg dröhnen. So schildert er eine Szene aus Leni Riefenstahls Propagandastreifen: Die Hakenkreuz-Fahnen flattern im Wind, das Flugzeug erreicht den Boden und aus der Tür tritt der „Führer“, um seinem Volk das Händchen entgegen zu recken. „Sie hat ein griechisches Drama daraus gemacht“, sagt Prange über Riefenstahls Film, der wie viele ihrer Werke von internationalen FilmkritikerInnen als ästhetische Innovation gefeiert wurde. Erst nach der öffentlichen Entrüstung über die Reichspogromnacht fand sich Riefenstahl als persona non grata im Filmgeschäft wieder.
„Kann man dieser jungen Filmemacherin einen Vorwurf machen, dass sie nur Kunst machen wollte?“, fragt Prange bei seiner Lesung im Literaturhaus Herne im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Spurensuche“. Solche Dilemmata bewegen den Schriftsteller: Hätte ich auch die Karrierechance genutzt? Wann wäre ich ausgestiegen? Und hätte man all die Schrecken der NS-Herrschaft bereits erahnen können?
„Eine Familie in Deutschland. Zeit zu hoffen, Zeit zu leben“ heißt der Titel von Pranges neuem Historienwälzer. Wie schon im verfilmten „Bernstein-Amulett“ führt auch der neue Roman den Autor in jene Zeit zurück, die ihn wie keine andere beschäftigt: der Nationalsozialismus als Panorama menschlicher und moralischer Verstrickungen. „Es geht mir darum, das in seiner Alltäglichkeit nachzuerleben“, sagt Prange. Auf über 650 Seiten flicht er einen Prosateppich aus Fiktion und Faktualität. Denn auch reale Persönlichkeiten haben in diesem Roman ihren Auftritt: Die Propagandafilmerin Riefenstahl wittert ihren Regie-Ruhm, der jüdischstämmige Auto-Industrielle Joseph Gantz schmiedet für seine Vision einer individuellen Mobilität eine Allianz mit den neuen Machthabern und der Kronjurist der Machtergreifung, Carl Schmitt, setzt sich bei Hermann Göring für jüdische Bekannte ein.
So richtig habe ja keiner wissen können, wohin das Ganze mit dem Hitler gehen werde, erklärt Prange an diesem Freitagabend. „Dunkel des gelebten Augenblicks“, nennt er das. „Das waren keine Idioten. Das waren Menschen, die sich fürchterlich geirrt haben und heute laufen ja wieder reihenweise Rattenfänger durch die Gegend.“
Um dieses Ungewissen für diese Individuen einzufangen, beleuchtet Prange das Geschehen abseits der historischen Schauplätze. In der niedersächsischen Gemeinde Fallersleben erleben die BürgerInnen die sogenannte Machtergreifung, wie es Prange in seinem Roman schildert, zunächst überhaupt nicht als Einschnitt: die spätere Automobilstadt Wolfsburg ist noch nicht aus dem Boden gestampft, die Industrialisierung lässt noch auf sich waren, die Agrarproduktion bestimmt hier noch das Leben: „Die Hauptstadt Berlin war darum weit, und selbst an diesem 30. Januar, an dem der Führer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, Adolf Hitler, durch den greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Kanzler ernannt wurde, war von den dortigen geschichtsträchtigen Ereignissen, in denen viele den Beginn einer besseren Zukunft erblickten, manche aber den Anfang eines vielleicht schrecklichen Endes, kaum etwas zu spüren.“
Hier, im ruhigen Fallersleben locken beim Richterfest Freibier und Essen Gäste an. Während der Schirmherr des Projekts, der Zuckerbaron Hermann Ising, eine feierliche Rede hält. Dieser Unternehmer gehört zu den vielen Irrenden, die Prange aus auktorialer Perspektive in sein Kaleidoskop webt. Er begrüßt die neue Hitler-Regierung, obwohl er sich als Nationalisten, nicht als glühenden Faschisten und Antisemiten sieht. „Er akzeptierte einen jüdischen Architekten als Schwiegersohn.“ Am Ende findet sich auch Ising im Räderwerk einer totalitären Vernichtungsmaschinerie wieder. Aber, so Prange: „Im dunkelsten Augenblick erscheinen die Sachen anders.“
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