Was ist das für eine Gesellschaft, in der die Ermöglichung, der Vollzug oder die Verhinderung von Seitensprüngen das ganze Konfliktpotential ausmachen? Ja, in der die Triebdurchbrüche gar nichts mehr mit Gier oder Gefühl zu tun haben, sondern der Betrug alltäglich Praxis ist? Eine Praxis, der man sich zwanghaft hingibt, und die toleriert ist, solange sie nur ja nicht öffentlich wird. In Georges Feydeaus Komödie „Monsieur Chasse oder wie man Hasen jagt“ schwitzen sich die Zwänge der Konvention, der moralischen Restriktion, der ökonomischen Vernunft quasi im absurden Wer-mit-Wem der Bürger aus. Da schläft Duchotel mit der Frau seines Freundes Cassagne, mit dem er angeblich jagen geht. Der wiederum ist auf der Suche nach seinem Nebenbuhler, um sich scheiden zu lassen. Duchotels Frau Leontine will nur mit dem Arzt Moricet ins Bett, wenn die Untreue ihres Mannes bewiesen ist. Im erotischen Spiel ist aber auch der junge Gontran, der seinen Onkel Duchotel finanziell aussaugt.
Wer nun eine überdreht Komödie erwartet hat, sah sich im Theater an der Ruhr in Mülheim getäuscht. Keine sprühenden, pointensatten Dialoge, keine übersteuerten Figuren, keine überdrehte szenische Mechanik. Es liegt eine ungewohnte Tristesse über Roberto Ciullis Inszenierung. Die mollgetränkte Klavieruntermalung der Szenen geht nie über ein Andante hinaus. Es regnet fast permanent, Tropfen laufen an einer die Bühne nach hinten abschließenden Glasscheibe herab. Gralff-Edzard Habben hat die Bühne mit zwei eleganten Lederbänken samt Wagenfeldleuchte sowie Plexiglasmöbel ausstatten lassen. Die kühle Eleganz setzt sich im Umgang der Figuren fort. Wenn sich Duchotel (Albert Bork) im rotem Samtjackett zur Jagd vorbereitet und von seiner Frau (Petra von der Beek ) verabschiedet wird, pflegen die beiden einen distanzierten, fast geschäftsmäßigen Umgang, ohne Gefühlsregung, immer am Rande der Vereisung. Überhaupt: Petra von der Beek. Immer wieder steht sie an der Glasscheibe und schaut hinaus. Eine scheinbar Verlorene, in deren Gesicht aber auf faszinierende Weise billige Blasiertheit, völlige innere Leere und Verwunderung darüber bruchlos ineinander übergehen. Wenn sie mit Moricet schließlich in einem Apartmentzimmer landet, kommt es allenfalls zu Beischlafverhinderungen. Dafür treibt sie den Arzt (Steffen Reuber) zur Weißglut, aber der ist auch einer homoerotischen Verlockung durch den nerdhaften Gontran (Marco Leibnitz) nicht abgeneigt. Ciulli lässt die Dialoge tröpfeln, von Crescendo keine Spur. Die Gespräche wirken regelrecht durchlöchert, immer am Rande des Verstummens. Das Land der Groteske scheint schon durchschritten und nur noch ein melancholischer Abgesang möglich. Manierismen wie der Kommissar mit Rattenschwanz oder die männlich besetzte Kupplerin Madame Latour mit Geweih sind eher lässliches Beiwerk. Vor allem wenn sich alle Figuren in einem Apartmentzimmer begegnen, hätte man sich mehr Irrsinn gewünscht, mehr Furioso statt Diminuendo – bevor dann die aberwitzige Schlussversöhnung folgt.
„Monsieur La Chasse“ von Georges Feydeau | R: Roberto Ciulli | Theater an der Ruhr, Mülheim | 25./26.10. 19.30 Uhr | www.theater-an-der-ruhr.de
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