Schon wieder ist es ein Gewaltherrscher, dem Hausregisseurin Katharina Thoma einen großen Auftritt auf der Dortmunder Opernbühne bereitet. Doch anders als Francesco Cavallis „L’Eliogabalo“, dem römischen Kaiser in der vergangenen Spielzeit, taugt Modest Mussorgskys russischer Zar Boris Godunow so gar nicht für eine humorvolle Annäherung. Schon die dramaturgische Klammer des „musikalischen Volksdramas“ könnte düsterer kaum ausfallen: Aufstieg und Fall des Zaren werden jeweils mit dem Tod eines Kindes besiegelt. Einmal ist es der Tod des Zarewitsch Dimitrij, des jüngsten Sohns Iwans des Schrecklichen, welcher Godunow den erfolgreichen Griff nach der Macht ermöglicht. Dass der historische Gudonow 1598 den Kronprinzen tatsächlich ermorden ließ, ist nicht bewiesen. Alexander Puschkin, von dem Mussorgsky die Textvorlage für seine Oper übernahm, folgte allerdings der Legende. Die eigentliche Bluttat zeigt Thoma nicht. Dennoch bleiben keine Zweifel daran, was dem kleinen Jungen blüht, den die Männer in sowjetischen Offiziersuniformen langsam einkreisen und dann buchstäblich verschwinden lassen. Godunow, ein Herr im edlen Anzug, verfolgt das Geschehen auf Abstand.
Thoma wird bis zuletzt nicht eindeutig offenlegen, ob sie ihren Godunow im heutigen Russland verortet. Die Ausstattung legt dies allerdings nahe. Bühnenbildner Stefan Hageneier setzt vor allem auf Nüchternheit. Nackte Betonwände dienen als trostlose Plattenbaukulisse, lassen sich aber auch ohne lange Umbaupausen in andere Schauplätze verwandeln. Meistens funktioniert die reduzierte Kulisse mit ihren wenigen Requisiten gut, zumal Thoma – vor allem beim Spiel mit den Proportionen – einige schöne Ideen darin erkennen lässt. Zuweilen aber lähmt die Kargheit auch das Bühnengeschehen. Gleich der erste Akt, nach dem stummen Prolog, gerät zu einer reichlich zähen Angelegenheit, weil sich den beiden Darstellern kaum Ansätze zu äußerer Handlung bieten. Musikalisch hingegen bleiben bei dieser Produktion kaum Wünsche offen. Mit Sponsorenhilfe ist es Dortmund gelungen, für die Partie des Boris Godunow einen hochkarätigen Gast zu verpflichten. Bass Dimitry Ivashchenko singt technisch makellos und ausdrucksstark. Die Entwicklung vom machthungrigen Usurpator über den wohlmeinenden, aber scheiternden Herrscher bis zum angstzerfressenen Psychowrack gelingt ihm überzeugend. Aber es ist keineswegs eine One-Man-Show geworden. Bis in die kleinen Nebenrollen hinein und auch im hervorragenden Chor wird durchgehend auf hohem Niveau gesungen.
Dortmunds scheidender GMD Jac van Steen dirigiert eine Mischversion aus dem „Ur-Boris“ von 1870 und dem beträchtlich erweiterten „Original-Boris“, wie er 1874 zur Uraufführung kam. Für den Orchesterklang entscheidend ist, dass es sich um die originale Mussorgsky-Partitur handelt, welche lange als handwerklich ungeschickt und harmonisch schroff galt. Geglättete Bearbeitungen von Rimski-Korsakow beherrschten deshalb lange die Aufführungspraxis. Ein seltener Leckerbissen für Opernfans!
„Boris Gudonow“ von Modest Mussorgsky | R: Katharina Thomas | Fr 23.12. 19.30 Uhr | Oper Dortmund | 0231 5 02 72 22 | www.theaterdo.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Piraten von gestern und heute
Die Junge Oper Dortmund zeigt „Die Piraten von Penzance“ – Prolog 06/24
Liebe in der Puszta
Operette „Gräfin Mariza“ in Dortmund – Oper in NRW 12/22
Magie des Puppenspiels
„Die Zauberflöte“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 08/22
Sex und Selbstzerstörung auf Droge
„Quartett“ von Luca Francesconi feiert deutsche Erstaufführung an der Oper Dortmund – Bühne 05/18
Neues Jahr, neues Glück
Mal was anderes. Silvesterparty im Theater oder auch ohne – Prolog 12/16
Kein Mitleid mit dem Mörder
Tilman Knabe inszeniert „Peter Grimes“ in Dortmund – Oper in NRW 06/16
Hinter der Fassade bleibt nichts
Tina Lanik inszeniert „La Traviata“ in Dortmund – Oper in NRW 03/16
Gnadenlos bodenständig
Jens-Daniel Herzog inszeniert „Tristan und Isolde“ zum Saisonauftakt – Oper in NRW 10/15
Fußball ohne Würfel
Die Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ in Dortmund – Oper in NRW 02/15
Carmen und die Schleuserbande
Bizet-Oper in Dortmund ein furioser Publikumserfolg – Oper in NRW 08/14
Dicke Hose auf der Wartburg
Kay Voges inszeniert Wagners Tannhäuser in Dortmund – Oper in NRW 03/14
Im Reich der lebenden Fossilien
J.-D. Herzog inszeniert Verdis „Don Carlo“ in Dortmund – Oper in NRW 11/13
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24