Irgendwo in Mülheim. Alles ist eigentlich wie immer bei Hendrik Ibsen, Peer Gynt und Aase, seine Mutter, befinden sich im familiären Zwiegespräch. Altersgerecht ist Maria Neumann der aufschneiderische Peer, Roberto Ciulli der erschöpfte, doch hier und da verschmitzte Gegenpart. Am Mittagstisch die bekannte Geschichte vom Ritt auf dem Bock, der tausend Meter tiefe Sturz in den eiskalten See. Jaja, im Gudbrandstal da gibt’s keine Sünd, weil da die Teufelslügenschmiede sind.
Nun? Irgendwo im Nirgendwo, das ist die leere graue Bühne im Theater an der Ruhr. Neumann und Ciulli machen tabula rasa mit Ibsens „Peer Gynt“ und dem ewigen Zwiebelschälen. Sie nehmen die Person des jungen Mannes ernst, nehmen ihn unter ihre Fittiche und argumentieren um sein Leben. Ja, er ist ein schlimmer Finger, ein Frauenheld, der immer und immer wieder an seinem eigenen Anspruch scheitert, der sich und die Welt verleugnet, wenn es Not tut, Reichtum und Anerkennung zu erlangen. „Dance me to the end of love“ singt Leonard Cohen, der diese graue Zwischenwelt, die die beiden da auf der Bühne heraufbeschworen haben, sicher auch locker hätte erreichen können. Peer wird mit Sklavenhandel reich, durch Suff wie sein Vater wieder arm, und immer ist er auf der Flucht vor den Trollen und Dämonen seiner Heimat – und vor der einen Liebe Solveigs, die er zurückließ. DasGyntsche Ich versperrt ihm alle rechten Wege.
Maria Neumann und Roberto Ciulli zelebrieren das dramatische Gedicht als ein solches, atemlos hasten beide durch Rollen und Szenerien, wälzen sich auf Tisch und Bett, atemlos sitzen sie da, starr vor dem Berg aus Leben, den sie da hinaufsteigen müssen. Ein grandioses Duo, für das jedes Adjektiv zu gering erscheint. Beide sind alle und alles, und wenn es still wird, wird es besonders stark. Aase Tod, die Begegnung mit dem Knopfgießer, das Ringen um Besonderheit. Nein, auch dieser Peer will nicht umgeschmolzen werden, doch auch sein Leben war nur Durchschnitt, einzig Solveigs Liebe könnte ihn retten. Die letzte Erkenntnis kommt dennoch zu spät: „Ich fürcht', ich war tot lange vor meinem Sterben.“ Einen letzten Kreuzweg scheint es in Mülheim nicht mehr zu geben.
„Peer Gynt“ | R: R. Ciulli, M. Neumann | Fr 3.2., Do 16.2. 19.30 Uhr, So 12.2. 18 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
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