Unter dem Chador sind alle gleich. Die Rechtgläubigen und die Säufer. In Tichons Herberge an der großen Straße sind sie fein säuberlich getrennt, nur der eiskalte Ofen trennt die Parteien, die sich vor einem Unwetter in die Herberge geflüchtet haben. Es donnert, es grollt, Obertongesang und Düsenflieger, langsam hebt sich im Theater an der Ruhr der Vorhang und gibt den Blick frei auf ein lebendiges Gemälde, langsam ganz langsam regen sich dort die schwarzen Gestalten vor dem Bluescreen. Weiße Sockel und Kästen, mehr hat die Kneipe für 10 Rubel pro Person nicht zu bieten und doch tun sich hier Abgründe auf zwischen Himmel und Hölle. Mit Gottes Hilfe wollen die Schatten den Morgen erwarten, oder mit viel Wodka, wenn sie ihn bezahlen können. Der Ping eines Sonargerätes durchzieht den Abend, es wird keinen Kontakt finden in dieser Herberge.
Jo Fabian inszeniert Tschechows frühe dramatische Skizze mehr als visuelle Performance denn als Einakter. Es ist ein Loblied auf die allgemeine zeitlose Beiläufigkeit des Lebens, die auch rezitiert wird. Kein Satz, dem im Sprachklang irgendeine Bedeutung beigemessen wird, keine Regung, die eine Aussage belegt. Nur zwischen den Szenen, da wird getanzt auf der silbernen Spiegelfläche, die einen wie die Derwische aus Konya, die andern nach der „New World Order“, das Prinzip ist austauschbar, alle streben nach Bestätigung im Verharren in der Beiläufigkeit. Die gestrandeten Landstreicher ebenso wie die abstinenten Rechtgäubigen oder die Säufer. Tichons Herberge ist die Welt und drum herum ist nur wütende Natur. Jo Fabian spielt mit Schatten, die hinter den Protagonisten ein Standbild erzeugen, flüchtige Abbilder flüchtiger Momente, kaum tauscht man Belehrungen aus, sind die Gedanken auch schon wieder verschwunden, langsam, ganz langsam. Erst als der Säufer als von der Liebe betrogener Gutsbesitzer identifiziert ist, organisiert sich der Haufen neu, es entsteht augenblicklich eine Hackordnung des Standes. Als die Frau, die ihn betrog, auftaucht, will man sie erschlagen, doch draußen schneit es. Was ist der Sinn? Zumindest Theater vom Feinsten.
„Auf der großen Straße“ | R: Jo Fabian | Do 2.4., Fr 24.4. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Vom Universum geblendet
„Vom Licht“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 04/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Nebel, Schaum und falsche Bärte
„Nathan.Death“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 11/21
Wenn die Natur zum Ausnahmezustand wird
Vladimir Sorokins „Violetter Schnee“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Bühne 08/21
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20