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„Woyzeck“
Foto: A. Köhring

Schrille Kopfmusik

30. Oktober 2012

Roberto Ciulli inszeniert „Woyzeck“ in Mülheim – Theater an der Ruhr 11/12

Die Schatten der Gitterstäbe legen sich wie ein Raster über den Körper des Delinquenten. Eines Gefangenen, dem – verurteilt vor der Tat – die Haft eher ein Refugium als eine Strafe ist. Rupert J. Seidl als Woyzeck im sandfarbenen Overall sitzt gebeugt auf einem Hocker, starrt ins fahle Licht und erzählt stockend von den inneren Stimmen, den Geräuschen, den Phantasien, die seinen Kopf durchzucken. Immer wieder wird Woyzeck im Laufe des Abends auf diesen Hocker in der geordneten Welt seiner Vorstellungskraft zurückkehren. Es ist eine Wahnpartitur, die Roberto Ciulli in seiner Interpretation von Büchners Stück aufblättert und die im Untertitel „Ein musikalischer Fall“ heißt. Im Hintergrund der spartanischen Bühne von Gralf-Edzard Habben ist ein kleines Orchester platziert, aus dem bis auf den Titelhelden und seine kleine Familie alle Figuren des Dramas heraustreten. Ihre Vaudeville- oder Jahrmarktsweisen im Stile eines Tom Waits und ihre Soundflächen bilden die Kopfmusik zum Drama.

Doch Ciulli, der in der Anordnung der Szenen und Verteilung der Textpassagen ziemlich frei mit Büchners fragmentarischem Stück umgeht, betreibt damit nicht die Entlastung einer brutalen Gesellschaft und ihrer Subsysteme. Im Gegenteil. Woyzecks Wahnphantasien entstellen die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit. Schon dessen kleiner Sohn trägt Uniform und seine Anhänglichkeit gegenüber der Mutter schlägt schnell in obszönes Gegrabsche um. Der Tambourmajor im Torerojäckchen tänzelt und schnaubt in seiner Eitelkeit wie ein überzüchtetes Pferd; Hauptmann und Arzt sind keine durchgeknallten, ins Absurde gesteigerten Vertreter des Militärs oder der Medizin, sondern wirken durch ihre herabgestimmte Beflissenheit bedrohlich. Der Jude, der Woyzeck das Messer für den Mord an Marie verkauft, ist ein trippelnder Jesus im Lendenschurz.

Woyzeck selbst ist keineswegs ein Getriebener, eher ein Grübler, ein Nachdenkender, dem das Spiel mit seinem Sohn oder die Liebessehnsucht der Marie schnell zu viel wird. Sinnierend schlitzt er einen Fisch an einem Seziertisch auf, und als plötzlich Marie darauf liegt, setzt er auch bei ihr das Messer an. Gerade sie aber scheint das eigentliche Opfer: Die Marie der Dagmar Geppert im schwarzen Dirndl unterwirft sich Woyzeck wie dem Tambourmajor und stirbt gleich dreimal: erst vom Titelhelden seziert, dann von ihm erstochen und schließlich vom Orchester zu Tode vergewaltigt. Der Tod ist hier ein ständiger Begleiter der Figuren – und zwar in Gestalt der Großmutter. Volker Roos spielt sie als Schnitter im Anzug mit dunkel umrandeten Augen, der herumstreicht („Ich rieche Menschenfleisch“), Woyzeck henkt und schließlich das berühmte Märchen vom kleinen Jungen erzählt. Am liebsten hält er sich allerdings neben einem strahlenden Eisblock auf, der über einem Fass mit Wasser hängt. Sein Stundenglas, das sind hier die Tropfen, die herabfallen („Die Zeit ist ein Menschenfresser“). Wenn die Zeit des Titelhelden abgelaufen ist, stürzt der Eisblock vom Haken – dem Tod geweiht war Woyzeck schon vorher.

„Woyzeck. Ein musikalischer Fall“ von Georg Büchner | R: Roberto Ciulli | Theater Mülheim a.d. Ruhr | 10./11.11. 16 Uhr, 23.11. 19.30 Uhr | www.theater-an-der-ruhr.de

Hans-Christoph Zimmermann

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