Wenn das Licht angeht, steht sie da im Scheinwerferlicht. Kassandra, die Seherin. Sie dreht uns den Rücken zu und doch: Die silbrige Fläche wirft ihr Spiegelbild in den Raum. Dreimal Bettina Lieder, die Schauspielerin, die Christa Wolfs Erzählung aus den frühen 80ern in einen Monolog verwandelt, den Dirk Baumann und Lena Biresch bearbeitet haben. Leichte Kost ist das nicht, aber dennoch spannend – und das liegt nicht nur an Lieders Leistung, sondern auch an Christa Wolf, die den antiken Stoff in eine zeitlose Anklage gegen den Krieg und seine Ursachen transportierte und gleichzeitig wohl zeitlose, immerwährende gesellschaftspolitische Machtstrukturen offenbarte, die sich ab einem gewissen Punkt der Auseinandersetzung immer der Wahrheit verschließen.
Der Fluch bleibt in der Welt
Ein Fluch, den Kassandra selbst in die Welt brachte, nachdem sie den göttlichen Apoll versetzte, der um sie warb, ihr die Sehergabe vermachte und dennoch in die Röhre schauen musste. Danach sollte niemand ihr mehr glauben, wenn es auch die Wahrheit sei. Kassandra, die starke Frau, macht aber tapfer weiter, wird Priesterin, dafür zwanghaft entjungfert, sie liebt Aineias, doch auch das wird nicht von Dauer sein. Ohne Requisiten, ohne viel Bewegung lässt uns Regisseurin Biresch im Dortmunder Studio am Desaster dieser Frau teilhaben, vertraut nur auf die Fähigkeiten ihrer Schauspielerin, die am Premierenabend schier unter der Last der Worte zusammenzubrechen drohte. Sparsame, aber wirkungsvolle Gesten, ein schlichtes Kostüm, geschnürte Sandalen, das muss reichen fürs Drama ums alte Staats-Troia, das bei Christa Wolf auch die DDR repräsentierte, irgendwie aber auch für den vereinigten Rest der Republik gültig geblieben scheint: „Wer nichts zu verbergen hat, braucht den König nicht zu fürchten“, gilt auch heute noch als Allerheilmittel für Datenvorratsspeicherung und Videoüberwachungswahn der Mächtigen, und nicht nur die Frauenbewegung hat sicher immer noch Spaß an „widerlichen Männerbeinen in Sandalen“. Doch immer noch fahren die Schiffe, die den Vorkrieg vorbereiten, immer noch gibt es sie, die Vieh-Achills in Uniform. Und Eumelos, den faschistoiden Chef der Palastwache des Priamos erkennen wir quer durch die Welt wieder. Gekaufte Orakel. Heldengräber. Kriegsmarketing. Schaut nach Osten. Was hat sich geändert? Nichts. Das macht die uralte Mär immer noch hörenswert, bewirken wird sie nie etwas. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Dieses Credo schlägt alle Argumente, schlägt Mahner, Seher und die Wahrheit, und dafür müssen sie sterben – auch heute noch. EinstAnna Politkowskaja, gerade erstAnja Niedringhaus, und täglich geht das Morden für die Tyrannen weiter.
Das Prinzip der Unterdrückung
Krieg. Ein lauter Basston lässt die Spiegel im kleinen Theaterraum zittern. Kassandras Bild verwackelt und doch bleibt ihre Sicht klar. Träumen mit beiden Beinen auf dem Boden ist nun nicht mehr möglich. Sie wird in die Wirren, die sie selbst vorhergesagt hat, hineingezogen, eingekerkert, entwürdigt, doch durch Anchises‘ Holzfiguren findet sich der Widerstand. Da hebt sich die Stimme, die Augen von Bettina Lieder füllen sich mit Wasser, sie sinkt zu Boden, sie hebt die Arme, doch das Ende ist nah. Selbst die zu Hilfe eilenden Amazonen werden geschlachtet, die große Penthesilea bereits tot noch vom Vieh Achill geschändet, der dann selbst einer List zum Opfer fällt. Helden? Was für ein Schwachsinn. Das berühmte Holzpferd steht bereit. In der Nacht werden alle Trojaner tot sein, auch das hat die Seherin vorausgesagt. Doch wen Apoll mal verflucht, dem glaubt man nicht. Kassandra wird von den Griechen als Sklavin verschleppt und schließlich mit ihren Zwillingen in Mykene ermordet. Aber da ist der großartige Monolog mit der überzeugenden Bettina Lieder bereits vorbei. Die Trojaner im Spiegel hinter ihr klatschen begeistert, doch das ewige Prinzip der Unterdrückung grinst böse.
„Kassandra“ | Fr 23.5. 20 Uhr + So 1.6. 18.30 Uhr + So 29.6. 18.30 Uhr | Theater Dortmund, Studio | Infos: 0231 50 27 222
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