Ein Verhörraum im sandigen Irgendwo. Hier sitzt der blutjunge Kämpfer und denkt über seine Taten nach, die er im guten Glauben an Irgendwas begangen hat. Roger Vontobel und Jana Schulz zeigen in den Bochumer Kammerspielen ihr zwölf Jahre junges Stück über Beweggründe eines Talibankämpfers, dessen Geschichte Regisseur Vontobel während ihrer Studentenzeit damals in Hamburg mit Lessings Antikriegsdrama „Philotas“ verwob, weil er dort Parallelen zur freiwilligen Aufopferung junger Menschen in der Gegenwart lokalisierte.
Jana Schulz quält sich durch ihre Gedanken, die ihr augenscheinlich nicht mehr gehorchen. Jeder Fetzen, der die jetzigen und die vergangenen Zustände beschreiben könnte, muss mit Mühe zusammengesetzt werden. Selbst Erinnerungen an Tatbestände der einst täglichen Verrichtung werden dabei zu Ankern, die hilflos über den Wüstenboden rutschen. Fragen, welche Farben wohl die Zahnbürste gehabt hatte oder die Zwischenraumbürsten, klein, mittel, groß, wechseln sich ab mit Fetzen aus dem bewaffneten Kampf gegen die Amerikaner, die auch schon mal einfache Stellungen fluten, um die sich darin aufhaltenden Freiheitskämpfer, oder sind es doch Terroristen, hundertfach zu ersäufen.
Eher beiläufig mischt sich zwischen krampfhafte Erinnerung und verzweifelte Sinnsuche noch die Geschichte von Philotas, ein Königssohn, der sich in der Kriegsgefangenschaft selbst tötete, um nicht vom gegnerischen König Aridäus als Druckmittel gegen den eigenen Vater benutzt werden zu können. Und weil Gotthold Ephraim Lessings Drama ziemlich lang ist und die Repetition schwierig, gibt Vontobel seiner Protagonistin schon mit dem neuen Titel „[FI’LO:TAS]“ eine Lautschrifthilfestellung. Der Königssohn könnte ein Vorbild sein für den Kämpfer auf der Bühne, welche augenscheinlich auch irgendwo in der Nähe von Mazari Sharif liegen müsste. Aufgeregt pendelt er zwischen seinem eigenen Vater und dem des Philotas, wägt die Vor- und Nachteile ab, findet dabei die Größen zu den drei Farben der Zahnzwischenraumbürsten und kommt zu keinem sinnvollen Ergebnis.
Vage Bilder der Kindheit wehen vorbei, Superman, ja, das war einer der Helden: Unverwundbar und heroisch bei allem was er tat. Doch unverwundbar ist das sandige Häuflein Elend leider nicht. Obwohl nur ein Stuhl auf der Bühne steht, sitzt der Delinquent quasi zwischen allen Stühlen, eine allgemeine Kommunikation ist ihm verbaut. Das einzige Requisit muss als Dialogpartner herhalten, als königliche Waffe, aber auch als letzter Akt der Verzweiflung.
Vontobel hat bei seiner Bearbeitung eine reale Gestalt vor Augen. Er mischt den antiken Stoff mit der Geschichte des jungen US-Amerikaners John Walker Lindh, der in Afghanistan auf Seiten der Taliban kämpfte. 2001 geriet er 20-jährig in Kriegsgefangenschaft, wurde in den USA in einem ziemlich merkwürdigen Verfahren verurteilt und muss noch mindestens fünf Jahre hinter Gittern verbringen. In der Inszenierung findet dieses „Happy End“ nicht statt. Der junge Mann bewegt sich bibbernd durch die Windungen seiner Gedanken, die er nicht mehr beherrscht. Fragen nach dem Warum werden nicht beantwortet.
John Walker Lindh reduziert sich auf einen Verwirrten, der anfangs Runen in den Sandkreis auf der Bühne kritzelt, der sich aus den Stuhlbeinen ein Schwert zusammenschraubt, dann die zerschossene amerikanische Fahne hisst und dann in einer Bombenexplosion verschwindet. Jana Schulz findet starke Bilder, starke Emotionen für den jungen Taliban, doch letzten Endes auch keine Lösung für die Ursachen seines Tun – wie auch? Um den Beginn der Sinnlosigkeit im entmythologisierten Dasein zu thematisieren, muss man nicht bei Philotas suchen sondern in der gestörten Psyche westlicher Staatsführer.
[FI’LO:TAS] | Kammerspiele Bochum | Infos 0234 / 33 33 55 55
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