„ACHTUNG! STROBOSKOPLICHT! FÜR KINDER UNTER DREI JAHREN NICHT GEEIGNET, DA KLEINTEILE VERSCHLUCKT WERDEN KÖNNEN! HUNDE SIND NICHT AN DER LEINE ZU FÜHREN!“
Mit solcherlei Warnungen und Anweisungen ausgestattet, die gut sichtbar an der Kasse ausliegen, wird das Publikum am 16.4. in den Saal des Ringlokschuppens eingelassen. Doch im Vorraum stockt es, denn jeder muss zunächst eine Nummer ziehen: An einen großen Pappkarton mit Luke klopfen, und schon kommt eine Hand zum Vorschein und gibt eine Nummer heraus, wie es inzwischen in jedem Wartesaal üblich ist.
Vorab angekündigt wurde der Abend des KünstlerInnen Kollektivs KGI entlang von Fragen, die sich mit „Zeit“ beschäftigen. Wann und wie wird sie sinnvoll genutzt? Wozu dient ihre Strukturierung? Verschwindet die Gegenwart, weil alle damit beschäftigt sind, eine bessere Zukunft herbeizuarbeiten? Die gezogene Nummer macht deutlich: In den nächsten drei Stunden bestimme jedenfalls nicht ich über meine Zeit, sondern KGI wird sie strukturieren – mich vielleicht sogar auffordern, mitzumachen? Dieser Gedanke gerät in Vergessenheit beim endgültigen Betreten des Theatersaals: Der Raum wurde buchstäblich verkleidet, die Wände verhangen mit dem Bauernkriegspanorama des Malers Werner Tübke. Das Publikum hat also etwas zu bestaunen, wie im Museum, bevor das selbsternannte doku-fiktionale Tanztheater losgeht. Dieses Staunen soll auch während der nächsten drei Stunden anhalten.
KGI und die von ihnen eingeladenen LaiendarstellerInnen eröffnen den Abend mit einem Auftritt wie im Tanztheater des Barock. In zwei adretten Reihen treten die zwölf PerformerInnen auf, die Schritte stilisiert, auf den Köpfen hohe Lockenperücken, teils auch mit dazu passenden Kostümen. Einige tragen Tierkostüme mit langen Schwänzen, wieder andere erinnern an mittelalterliche GauklerInnen.
Dieser Auftritt, begleitet von Klängen des am Rand sitzenden DJs und Musikers, endet mit einem Monolog des 12jährigen Justin Riedel. Er erklärt, dass das Kollektiv hohe Schulden beim Ringlokschuppen habe. Denn die Institution habe ihnen Geld vorgestreckt, um dieses Projekt zu machen. Viel Geld. Und nun müssten sie es zurückzahlen, indem sie diesen Abend gestalten, ob sie es nun könnten oder nicht. Das Kollektiv habe sich verpflichtet. Für genau diesen Moment (jetzt!), für die Präsentation des Projektes hätten sie in den Proben ihre Zeit verpfändet, im Futur 2 gelebt, um nun auf die vergangene Zukünftigkeit als Gegenwart zu blicken und so die Schuld zu begleichen.
Dieser Text, dermaßen gut gesprochen und gedacht, ist die Ansage für den Abend und bringt den Ankündigungstext auf den Punkt: Es soll gezeigt werden, wie ein Wert produziert wird, um eine (Grund-) Schuld angemessen zu begleichen. Genau wie im Alltag oder im religiösen Leben, das sich auch um Fragen der Verschuldung bzw. das permanente Gefühl des „Etwas-schuldig-Seins“ dreht: Das kann die Schuld sein, die bei einer Institution mit der eigenen Arbeitskraft eingelöst wird. Oder sie wird im Fitnessstudio beglichen, da die eigene Gesundheit ihr Recht anmeldet. Oder wir sind unserer Laune schuldig, endlich das gute Wetter auszunutzen.
KGI hat für das Einlösen der Schuld beim Ringlokschuppen ein System entwickelt, das mit den zu Beginn gezogenen Nummern zusammenhängt. Über dem am linken Rand sitzenden Musiker hängt eine LED Anzeige, auf der er die Nummern erscheinen lässt. Die DarstellerInnen, zwischen 12 und sechzig Jahren, haben auf ihren Körpern notiert, welche Nummer was bedeutet.
Ja, es handelt sich bei dem Abend um eine Nummernrevue, aber um eine intelligente. Die DarstellerInnen bilden einen liebevoll ausgearbeiteten Chor. Sie erzählen aus verschiedensten Biographien, vielleicht manchmal aus der eigenen. Weil sie geschickt miteinander verwoben sind, wirken die Szenen nie wie ein Seelenstriptease, rühren aber dennoch mitunter zu Tränen.
Mal stehen die PerformerInnen Eis lutschend in einer Reihe und sagen im entspannten Plauderton Sätze wie: „Meine Albträume sind die Strafe für den Schlaf“. Mal versuchen sie minutenlang, sich springend, drehend, hüpfend historische Kostüme anzuziehen. Dann wieder verspachteln sie gemeinsam eine imaginäre Wand. Keine einzige Nummer schert sich um irgendwelche Theater-Konventionen, es gibt keine Angst vor Längen oder Peinlichkeiten. Es wird getanzt, gekämpft, gesungen und geschrien, eine Idee jagt die nächste.
Alles scheint mit allem zusammenzuhängen in dieser großartigen Karnevalskiste. Das Publikum zieht thematische Linien, etwa zwischen Szene, Bühnenbild und Musik: Wiederkehrende Themen und Bilder lenken die Blicke und die Gedanken. Und immer wieder die Frage: Wie wird verbrachte Zeit zu sinnvoll verbrachter Zeit? Wie entsteht ein Mehrwert? Oder anders: Sind diese Fragen in Wahrheit nur dazu da, uns wieder und wieder schuldig zu fühlen?
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