Immer raus in die weite Welt. Mittenrein in die Authentizität dreckiger Revolution und exotischer Strände, oder exotischer Revolution und dreckiger Strände. Hauptsache weit weg und mit dem Anstrich des Sozialabenteurer… und dann kommt die bucklige Verwandtschaft aus Guatemala und erklärt mir die Heimat. Gut, bei den deutschen Großstädten machen sie mir nichts vor (die liebliche Provinz hat mich immer schon verjagt). Bei den Extremspots am Rande Europas bin ich auch noch im Vorteil. Aber schon bei Wien wird’s peinlich: ein paar Krumen Weltkriegswissen, Romy als Sissi im Weichzeichner und loses Gegrantel über Prunk, Protz und eine vermeintliche zeitgeistige Rückständigkeit. Als kenne der Teufel seinen Garten nicht…
Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Sicherheitshalber ziehe ich mir mit dem „CityTrip Wien” [Reise Know-How] noch flugs einen vertrauten Reisebegleiter rein. Auf meinem alten Pad und in dem heillos überfüllten Reader kein Vergnügen. Aber dafür gibt’s ja eine selbst für digitale Analphabeten wie mich leicht zu bedienende App inklusive. Allein für die Suche nach einer gut gelegenen Unterkunft unverzichtbar – und vom Siebten (Bezirk) ist so ziemlich alles an Culture Life fußläufig erreichbar. Mal ganz von den Beisl, Bars und Cafés abgesehen, in denen ich über kurz oder lang hängen bleiben werde.
Morgens am liebsten im Espresso auf der verrockten Holzterrasse direkt an der Burggasse – bei pochiertem Ei und den „Memoiren eines alten Arschlochs” [Diogenes] von Roland Topor. Stolpert man in Wien von einer Sehenswürdigkeit über die nächste, so legst di' in der Fake-Autobiographie des 1997 verstorbenen Multikünstlers auf nahezu jeder Seite nieder. Zu genial, mit welch schelmischem Schmäh Topor seine populären Zeitgenossen ins Leere laufen lässt. Unfähig allesamt haben sie nur ihm ihre Kunst und Berühmtheit zu verdanken. Wer braucht da zum Einspänner noch die Krone?
Mittags Jambala oder Ari’s Burger in der Zwischenzeit, im lauschigen Hinterhofgässchen fernab aller Zeit. Genau das richtige lukullische Umfeld, um sich das Vater-Sohn-Drama „Alle, die du liebst” [Piper] von Georg M. Oswald küchenpsychologisch auf der Zunge zergehen zu lassen – von einem selbstgerechten Karrieristen, der seinen freiheitsliebenden Sohn bis auf eine kenianische Insel verfolgt, um sich in diesem selbst – oder zumindest Mitleid und Vergebung – zu finden. Sehen wir’s mal als Parabel auf die kapitalistische Kolonialisierung.
Da freut man sich dann doch des Abends auf ’nen echten Beisl-Klassiker wie den Tafelspitz im Schilling. Zarte Fleischlappen mit Apfelkren – angereichert mit der köstlichen Süffisanz eines Forrest Leo. Auch so ein Schelm von Autor, der die Charming Fifties der Gaststätte nochmal 100 Jahre zurücklässt, um sich als vom Joch der Ehe strangulierter Dichter mit dem Teuf’l als „Gentleman” [Aufbau] anzufreunden. Breiter kann nicht mal der Wiener schmäh’n. Kulinarisch rund und den Schalk im Nacken stürze ich mich in die Hölle des Wiener Nachtlebens, die mir in Form undurchdringlicher Rauchschwaden aus dem Steirisch Pub entgegen wabert. Heiß, stickig, unverwüstlich grenzdebil – und nur in Bezug auf die Konservierungsmethoden museal. Man sollte öfter im eigenen Garten wildern.
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