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Wolfram Eilenberger stellte in der Kokerei Zollverein sein neues Buch vor
Foto: Annette Hauschild Ostkreuz

Sprachloser Aufbruch

16. Oktober 2024

Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24

Für eine philosophische Debatte erscheint es nicht gerade zuträglich, wenn plötzlich ein Handy klingelt. Aber ein Mobiltelefon aus dem Publikum bimmelt an diesem Freitagabend im Salzlager der Kokerei Zollverein munter vor sich hin – bis der Autor Wolfram Eilenberger während der Buchvorstellung im Rahmen von Lit.Ruhr darum bittet, das Gerät auszuschalten. Oder wäre es sinnvoller gewesen, den Anruf anzunehmen? Das legt zumindest Christian Schärf, Literaturwissenschaftler und an diesem Abend der Moderator, nahe: „Es hätte auch Adorno sein können, der anruft.“

Adorno am Hörer

Schließlich referiert der Philosoph und Autor in diesem Moment über den brennenden Gegenwartsbezug von Theodor W. Adorno. Der Autor der „Minima Moralia“ ist einer von vier Denker:innen, die Eilenberger in seinem neuen Buch „Geister der Gegenwart“ porträtiert. Die anderen drei heißen Paul Feyerabend, Susan Sontag und Michel Foucault.

„Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung (1948-1984)“, so lautet der Untertitel von Eilenbergers knapp 470 Seiten umfassendem Zeitgeistpanorama, das an den Stil seiner Vorgängerbände wie „Zeitalter der Zauberer“ über unter anderem Walter Benjamin, Martin Heidegger oder Ludwig Wittgenstein anknüpft. So ist es auch in „Geister der Gegenwart“ ein episodenartiges Muster, mit dem Eilenberger von den Biografien und Theorien dieses Quartetts erzählt.

Neue Sprache

Die großen Cliffhanger, von denen am Beispiel dieser Denker:innen erzählt wird: die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoah, die sprachlos zurück lassen und zugleich Aufbruch bedeuten. „Diese vier Personen sind beispiellose Verkörperungen dafür, für sich und uns eine neue Sprache zu finden“, erläutert Eilenberger, „diese vier versuchen, sich selbst zu einem Ausgangspunkt zu machen.“

So erfahren wir, wie Adorno nach seiner USA-Rückkehr 1949 durch die Fenster einer Straßenbahn auf die Trümmer blickt, die noch immer das Stadtbilder der jungen Bonner Republik prägen. Währenddessen ist der junge Paul Feyerabend damit beschäftigt, sich von den formallogischen Versprechungen des Wiener Kreises bzw. des Logischen Empirismus loszueisen.

Verratenes Werk

Der junge Foucault erlebt dagegen in Paris, wie Jean-Paul Sartre nach einer Lesung mit seinem Existenzialismus über Nacht zum Star wird. Dabei befindet sich Foucault selbst in seiner Lebenskrise. Alkoholeskapaden und das reaktionäre wie homophobe Klima der frühen 1950er resultieren in zwei Suizidversuchen und einer Psychiatrieeinweisung. Einige Jahre später publiziert Foucault ein Buch, das unter dem Titel „Wahnsinn und Gesellschaft“ reüssiert.

Und dann wäre da noch Susan Sontag, die bereits im zarten Alter von fünf Jahren gegenüber ihrer Nanny das bescheidene Ziel äußert, Literaturnobelpreisträgerin zu werden. Als Sechzehnjährige sitzt Sontag immerhin einem Literaturnobelpreisträger für ein Interview gegenüber: Thomas Mann. Enttäuscht protokolliert sie daraufhin: „Die Kommentare des Autors verraten sein Werk durch ihre Banalität.“ Schließlich befindet sich die Jugendliche und spätere Meister-Essayistin bereits im Sog der sexuellen Revolution, die rund um Berkeley losgeht, und andere Metropolen erreicht, Berlin oder Paris, Orte, wo auch Foucault oder Adorno die 68er-Rebellion erleben. Dabei blicken sie skeptisch auf diese Geburt des politischen Aktivismus, wie Eilenberger betont, ein Aspekt der brennend aktuell sei: „Im Prozess des Schreibens wurde mir klar, dass wir uns wieder an einer Abbruchkante unserer Begrifflichkeit befinden“, so Eilenberger, „Adorno spricht wieder zu uns.“ Auch wenn er nicht anruft.

Benjamin Trilling

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