Für eine philosophische Debatte erscheint es nicht gerade zuträglich, wenn plötzlich ein Handy klingelt. Aber ein Mobiltelefon aus dem Publikum bimmelt an diesem Freitagabend im Salzlager der Kokerei Zollverein munter vor sich hin – bis der Autor Wolfram Eilenberger während der Buchvorstellung im Rahmen von Lit.Ruhr darum bittet, das Gerät auszuschalten. Oder wäre es sinnvoller gewesen, den Anruf anzunehmen? Das legt zumindest Christian Schärf, Literaturwissenschaftler und an diesem Abend der Moderator, nahe: „Es hätte auch Adorno sein können, der anruft.“
Adorno am Hörer
Schließlich referiert der Philosoph und Autor in diesem Moment über den brennenden Gegenwartsbezug von Theodor W. Adorno. Der Autor der „Minima Moralia“ ist einer von vier Denker:innen, die Eilenberger in seinem neuen Buch „Geister der Gegenwart“ porträtiert. Die anderen drei heißen Paul Feyerabend, Susan Sontag und Michel Foucault.
„Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung (1948-1984)“, so lautet der Untertitel von Eilenbergers knapp 470 Seiten umfassendem Zeitgeistpanorama, das an den Stil seiner Vorgängerbände wie „Zeitalter der Zauberer“ über unter anderem Walter Benjamin, Martin Heidegger oder Ludwig Wittgenstein anknüpft. So ist es auch in „Geister der Gegenwart“ ein episodenartiges Muster, mit dem Eilenberger von den Biografien und Theorien dieses Quartetts erzählt.
Neue Sprache
Die großen Cliffhanger, von denen am Beispiel dieser Denker:innen erzählt wird: die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoah, die sprachlos zurück lassen und zugleich Aufbruch bedeuten. „Diese vier Personen sind beispiellose Verkörperungen dafür, für sich und uns eine neue Sprache zu finden“, erläutert Eilenberger, „diese vier versuchen, sich selbst zu einem Ausgangspunkt zu machen.“
So erfahren wir, wie Adorno nach seiner USA-Rückkehr 1949 durch die Fenster einer Straßenbahn auf die Trümmer blickt, die noch immer das Stadtbilder der jungen Bonner Republik prägen. Währenddessen ist der junge Paul Feyerabend damit beschäftigt, sich von den formallogischen Versprechungen des Wiener Kreises bzw. des Logischen Empirismus loszueisen.
Verratenes Werk
Der junge Foucault erlebt dagegen in Paris, wie Jean-Paul Sartre nach einer Lesung mit seinem Existenzialismus über Nacht zum Star wird. Dabei befindet sich Foucault selbst in seiner Lebenskrise. Alkoholeskapaden und das reaktionäre wie homophobe Klima der frühen 1950er resultieren in zwei Suizidversuchen und einer Psychiatrieeinweisung. Einige Jahre später publiziert Foucault ein Buch, das unter dem Titel „Wahnsinn und Gesellschaft“ reüssiert.
Und dann wäre da noch Susan Sontag, die bereits im zarten Alter von fünf Jahren gegenüber ihrer Nanny das bescheidene Ziel äußert, Literaturnobelpreisträgerin zu werden. Als Sechzehnjährige sitzt Sontag immerhin einem Literaturnobelpreisträger für ein Interview gegenüber: Thomas Mann. Enttäuscht protokolliert sie daraufhin: „Die Kommentare des Autors verraten sein Werk durch ihre Banalität.“ Schließlich befindet sich die Jugendliche und spätere Meister-Essayistin bereits im Sog der sexuellen Revolution, die rund um Berkeley losgeht, und andere Metropolen erreicht, Berlin oder Paris, Orte, wo auch Foucault oder Adorno die 68er-Rebellion erleben. Dabei blicken sie skeptisch auf diese Geburt des politischen Aktivismus, wie Eilenberger betont, ein Aspekt der brennend aktuell sei: „Im Prozess des Schreibens wurde mir klar, dass wir uns wieder an einer Abbruchkante unserer Begrifflichkeit befinden“, so Eilenberger, „Adorno spricht wieder zu uns.“ Auch wenn er nicht anruft.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Festival der Worte
Siebte Ausgabe der lit.Ruhr– Literatur 10/23
Von den Bergwerken zum Mond
Matthias Brandt und Cornelia Funke auf Lit.Ruhr – Festival 10/22
Scham und Bühne
Joachim Meyerhoff eröffnet furios die Lit.Ruhr – Festival 10/22
Lokalkolorit und Aufbruch
lit.Ruhr in Bochum, Essen, Gelsenkirchen und Oberhausen – Festival 10/22
Faustisches Lit.Ruhr-Finale
Mensch gegen Maschine: Frank Schätzing inszeniert am 14.10. KI-Bestseller – Literatur 10/18
Abstieg des Westens?
Ex-Außenminister Joschka Fischer belehrt auf Zollverein Lit.Ruhr-Publikum – Literatur 10/18
Am Strand von Bochum
lit.Ruhr 2018 – das Besondere 10/18
Kein Abklatsch
Die erste lit.Ruhr – das Besondere 09/17
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Mit Sörensen zum Eisbaden
Sven Stricker und Bjarne Mädel beim Festival „Mord am Hellweg“ – Literatur 10/24