Das diesjährige „Mord am Hellweg“-Festival hat eine echte Sensation zu bieten: In Kamen kann man tatsächlich erleben, dass ein altes Freibad nicht einfach nur platt gemacht, sondern durch ein neues Kombi-Bad auf der Höhe der Zeit ersetzt wird – während andernorts die Kommunalpolitik der festen Überzeugung ist, dass sich Schwimmbäder nicht rentieren.. Noch befindet sich das Gebäude im Rohbau, doch kurze Baustellenführungen sorgen an diesem Tag dafür, dass sich die Besucher:innen vorstellen können, wie das Seseke-Bad in nicht allzu ferner Zukunft aussehen wird. Aber eignet sich ausgerechnet ein Schwimmbad für eine Lesung? Gekommen ist man schließlich heute nicht in erster Linie für die Location, sondern um sich mit „Sörensen macht Urlaub“ vertraut zu machen, Sven Strickers mittlerweile fünftem Roman um den von Panikattacken heimgesuchten Kriminalkommissar. Naja, zugegeben: Viele sind auch hier, um den beliebten TV-Schauspieler Bjarne Mädel („Der Tatortreiniger“) einmal live zu erleben. Und um es vorweg zu nehmen: Der Sound ist brillant an diesem Abend – von der gefürchteten „Schwimmbadakustik“ ist nichts zu spüren. Das künftige Schwimmbecken ist mit dicken Holzplatten abgedeckt, die Wasserdüsen am Beckenrand mit leuchtendem Absperrband umwickelt – und die Stühle sind bis auf den letzten Platz besetzt. Das wundert nicht, denn wenn man Bjarne Mädel präsentiert, läuft der Vorverkauf von selbst. Glücklicherweise handelt es sich aber nicht um eine „Wir nehmen ein Fernsehgesicht hinzu, um die Lesung zu verkaufen“-Veranstaltung, sondern die Kombination aus dem Autor Sven Stricker und Bjarne Mädel ist nahezu zwingend, da Mädel nicht nur als Regisseur und Schauspieler für die beiden ersten Sörensen-Verfilmungen verantwortlich zeichnet, sondern schon bei den Hörbüchern für den richtigen Tonfall sorgt.
Warum überhaupt Urlaub?
Apropos Tonfall: Die erste Person, die die Bühne betritt, ist ein schlaksiger junger Mann, der sich an ein mit Tasteninstrumenten und Laptops gespicktes Pult setzt und mit sphärischen Klavierklängen die Atmosphäre der Sörensen-Hörspiele beschwört. Es folgt ein Dialog zweier Männerstimmen aus dem Off, die sich darüber unterhalten, warum denn niemand dem Jan gesagt habe, dass er heute gar nicht dabei sei. Eine sehr unterhaltsame Methode, Jan-Peter Pflug vorzustellen, der als Komponist und Musiker bei so manchem Hörspiel für den guten Ton sorgt und zum Beispiel auch für die „Drei ???“ ein akustisches Ausrufezeichen setzt. Ein Dialog wie „Das ist ja blöd, da müssen wir die Gage durch drei teilen. – Wie, Du kriegst Gage?“ bringen die Zwerchfelle des Publikums schon auf Betriebstemperatur, bevor Sven Stricker und Bjarne Mädel tatsächlich ins Rampenlicht treten. Ohne viele Worte nehmen sie den Auftrittsapplaus entgegen, dann Platz. „Warum überhaupt Urlaub?“, setzt Mädel ohne ein Wort der Begrüßung an und führt die Besucher so direkt in die Gedankenwelt Sörensens, der sich eher wiederwillig darauf vorbereitet, der Tristesse des Örtchens Katenbüll für eine Weile in den Süden zu entfliehen – immerhin bis nach Österreich. Diese erste Passage zeigt bereits einen wichtigen Aspekt dessen, was die ungewöhnliche Krimireihe Strickers ausmacht: Die inneren Monologe, die sich auf der einen Seite immer wieder im Kreis drehen und gleichzeitig abschweifen in Dimensionen von Philosophie bis Psychologie. Was ist „Urlaub“ überhaupt für ein Wort? Da hat Sörensen sich mühsam eingelebt in dieses nordfriesische Fleckchen Erde, da muss er das gerade erlangte fragile seelische Gleichgewicht in Gefahr bringen mit einem Ortswechsel?
Spiellaune und Frösteln
Es ist schwer zu sagen, ob man bereits bei der Lektüre der Bücher die Stimme und vor allem Intonation Mädels mitgehört hat oder ob dieses Gefühl letztlich vom Konsum der Filme und Hörspiele herrührt. Wie auch immer: Bjarne Mädel und Sörensen gehen eine perfekte Symbiose ein. Kann es sein, dass Stricker Bjarne Mädel diese so besondere Krimi-Figur direkt auf den Leib geschrieben hat? Unzweifelhaft jedoch ist, dass Stricker, der vor seinem Autorenleben langjährige Erfahrung im Arrangieren von Hörspielen gesammelt hat, auch diese Lesung bis ins Detail inszeniert hat. Er hat Stellen ausgewählt, die zwar einen guten Einblick in seinen Stil und eine grobe Übersicht über den Kriminalfall geben, ohne dabei jedoch allzu viel vorweg zu nehmen. Stricker und Mädel harmonieren auf der Bühne exzellent, zeigen sich in großer Spiellaune. Das Wort ist bewusst gewählt, denn dieser Abend hat etwas von einer szenischen Lesung. Hier wird nicht nur gelesen, hier gehen die Vortragenden in ihren Rollen auf. Das Timing sitzt, die Mimik und die Gesten erst recht. Sven Stricker ist ein hervorragender Interpret seines Romans und man gewinnt den Eindruck, dass er problemlos den Abend auch alleine hätte bestreiten können – aber die Kombination mit Bjarne Mädel und Jan-Peter Pflug bringt den gesamten Abend auf eine ganz andere Ebene. Dass der „Tatortreiniger“ den Saal füllt, ist für die Festivalmacher ein positiver Effekt – das gesamte Konzept hat aber gegenüber einer reinen Lesung tatsächlich immensen Mehrwert. Brillant sind bei Stricker nicht nur die Sätze, sondern die Pausen dazwischen. Dialoge, in denen Menschen aneinander vorbeireden, in denen das Ungesagte plötzlich wie ein Elefant im Raum steht. Und an diesem Abend kommen noch die vielsagenden Blicke hinzu. Dabei sorgen hochkomische Momente für tragische Fallhöhe: Bei einer Passage, in der Sörensen von dem misslungenen Einsatz erzählt, der ursächlich für seine Angststörung war, hängen alle Anwesenden an Mädels Lippen. Dieser Teil der Lesung ist ungeheuer intensiv, man fiebert mit, weiß, genau wie Sörensen in diesem Moment, dass etwas furchtbar schief gehen wird und kann ebenso wenig eingreifen, wie er es konnte. Großartig geschrieben und kongenial von Mädel umgesetzt, bringt diese Szene das Publikum zum Frösteln. Als ob sich nicht der Schwimmbad-Rohbau beim Fortschreiten des Abends ohnehin als recht zugiges Örtchen erwiese! Clevere Ortskundige hatten direkt Decken oder Sitzkissen dabei. Gut, dass es zum Abschluss noch ein Dialogfeuerwerk gibt zwischen Kriminaloberkomissarin „KOK“ Jenni Holstenbeck und dem Alpha-Männchen Kriminalhauptkomissar „KHK“ Marius Mommsen (eine neue Figur im Sörensen-Kosmos, dessen blendendes Aussehen und testosteron-gesteuertes Auftreten leider nicht annähernd seinen Mangel an Intellekt und Empathie kompensieren können). So kann man wahlweise mit einem Lächeln oder auch breiten Grinsen im Gesicht nach Hause gehen – und mit einem signierten Expemplar von „Sörensen macht Urlaub“ in der Hand.
Mord am Hellweg | bis 8.11. | diverse Städte | mordamhellweg.de
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