Neulich konnte es eine Boulevardzeitung, die Nebensätze meidet, nicht lassen, ihren Leser:innen mit dieser Frage zu kommen: „Gehöre ich zu den Reichen oder Armen?“ Diese Schlagzeile des Springer-Konzerns führt Dietmar Dath zur Auftaktveranstaltung von des Festivals Literaturdistrikt in Essen an, um auf das Schlamassel zwischen betrübter Wirklichkeit und hochjazzender Ideologie zu verweisen: „Wer ernsthaft die Bild-Zeitung braucht, um das zu verstehen, gehört zu den Bescheuerten“, holt der Schriftsteller aus. „Wenn ich drei Mal die Bild-Zeitung erwähnt habe, bin ich fertig.“
Da hat Dath das Blatt mit den großen Buchstaben indes bereits deutlich öfter erwähnt – genauso oft wie einschlägige Werktitel aus der Feder von Karl Marx und Friedrich Engels: Von den Feuerbach-Thesen, über die „Deutsche Ideologie“ bis hin zum „Kommunistischen Manifest“. Wer also im ausverkauften Filmstudio Glückauf saß, konnte also einem munter mäandernden Dialog folgen, den Dath mit Wolfgang M. Schmitt führte. Das Metier: die Ideologiekritik. Der Gegenstand: die Schuld.
Du, du, du!
Denn Schmitt, bekannt durch das Videoformat „Die Filmanalyse“ oder den Podcast „Wohlstand für alle“, hat jüngst gemeinsam mit Ann-Kristin Tlusty den Band „Selbst Schuld!“ herausgegeben. In der knapp 250-seitigen Anthologie finden sich unter anderem Beiträge von Christian Baron, Sarah-Lee Heinrich, Aladin El-Mafaalani oder eben Dath und Schmitt. Die Autor:innen verhandeln in ihren Essays diverse Diskurse – von der Armut, über die Generationen bis zum Klima. Gemeinsame Klammer bleibt die Frage nach der Schuld, die aufgrund der neoliberalen Verstrickungen in den letzten vier Jahrzehnten zunehmend individualistisch ausgelegt wird. Anders gesagt: Wer scheitert, soll die Gründe und Ursachen dafür gefälligst bei sich selbst suchen – und nur bei sich selbst.
So ist es auch die zweite Person Singular, um die das Vorwort kreist: ein „Du“, das vor fast zwanzig Jahren das Time Magazin als Selbstermächtigungs- und Kontrollinstanz der Informations- bzw. Internetära angepriesen habe. Wie das Freud’sche Über-Ich drängt sich dieses Du dem Individuum als eine Gewissensinstanz auf: „Die Zuschreibung von Schuld an Einzelne ist ein grundlegender Mechanismus, um von gesellschaftlichen Missständen abzulenken“, heißt es etwa im Vorwort.
Staatsdiener
Dath erwähnt Tlustys Beitrag über die „Faulheit“, der über verschiedene Etappen dieses Diskurses referiert: von Paul Lafargues Polemik „Recht auf Faulheit“, über Max Webers Diagnose einer protestantischen Ethik als Stütze des Kapitalismus, bis zu den Wahnvorstellungen über Arbeitslose, die Schröder, Sarrazin und Co. in die Öffentlichkeit herausposaunten – etwas, das Dath und Schmitt auf die aktuelle Debatte über zu viele Krankschreibungen von Arbeitnehmer:innen beziehen.
Und dann wieder bei anderen Kapiteln landen: Internet, Romanliteratur, VW und die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft und folglich bei der materialistischen Dialektik, womit beide unter anderem auch bei Olaf Scholz‘ Floskel von der „Zeitenwende“ landen. Schmitt: „Das Individuum soll jetzt doch wieder dem Interesse des Staates dienen.“ Kommt nun also wieder eine Wehrpflicht, nachdem der Staat die Bürger:innen in den letzten Dekaden in eine hedonistische Konsumsphäre entlassen hatte? Und ersetzt ein um sich greifender Protektionismus den ordoliberalen Drang nach Freihandelsabkommen? „Ich neige dazu, dass wenn etwas stirbt, ich mich in das Sterbende verliebe“, so Schmitt. „Ich sehe gerade eine schlechtere Alternative, die sich auftut. Trotzdem wünsche ich mir nicht die 90er zurück.“ Keine Postdemokratie statt Rechtspopulismus? Kein Bill Clinton statt Trump? Dath bringt noch einmal die Dialektik ins Spiel, erwähnt den „Vorteil einer kapitalistischen Dynamik, in der Widersprüche zugespitzt werden“, wie der Marxist erläutert. Dafür konsultiert er Marx und Engels selbst, die im Manifest zwei Alternativen eröffnen: Proletarische Revolution oder Untergang aller Klassen. Das wäre doch mal was für einen Aufmacher in der Bild-Zeitung.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Sprachloser Aufbruch
Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24
Mit Sörensen zum Eisbaden
Sven Stricker und Bjarne Mädel beim Festival „Mord am Hellweg“ – Literatur 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Wie geht Geld?
„Alles Money, oder was? – Von Aktien, Bitcoins und Zinsen“ von Christine Bortenlänger und Franz-Josef Leven – Vorlesung 09/24
Lesen unterm Förderturm
Lit.Ruhr in mehreren Städten – Festival 09/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24
Zerstörung eines Paradieses
„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24