Klatsch. Der nackte Körper fällt erstaunlich tief auf die Bühne des Essener Grillo-Theaters. Gerade noch war er Teil eines bizarren Leichenschauhauses, jetzt wird er in die feindliche Welt zurückgeworfen. Als Monster, „genäht“ von Victor Frankenstein, verstoßen von der Umwelt, gequält von den Menschen, macht es sich auf den Weg nach den Antworten auf seine „Warums?“ zu suchen.
Gustav Rueb inszeniert die Frankenstein-Fassung des britischen Dramatikers Nick Dear, dicht, fordernd, mit ein bisschen „Bladerunner“-Atmosphäre und Dauersoundspur. Eine Drehbühne wird zum Angelpunkt der Handlung, zur Zwischenwelt von Labor, Natur und Wohnbehausung. Denn eigentlich choreografiert Rueb dort zwei Monster durch die dunkle Welt. Leitern führen überall zum Himmel, drei junge Homunkuli treiben ihr Unwesen, dann beherrscht das Wesen die Bühne. Ein grandioser Axel Holst beginnt mit seinem Spitzentanz des Grauens. Tapsig wie ein junger Hund stolpert er ins eigene Bewusstsein. Angst erhöht dabei die Wahrnehmungsreize, die Einsamkeit potenziert die Gewaltbereitschaft. Bei einem Blinden lernt er vom Paradies und der Erbsünde, nebenbei lesen und schreiben – und denken. Unfreiwillig wird er dort auch zum brutalen Mörder, auch mit philosophischem Background. Das verlorene Paradies muss wiedergefunden werden und das heißt, eine Frau muss her, Victor Frankenstein noch einmal ran. Den fasziniert die Möglichkeit, ein perfektes Wesen zu schaffen, mit perfektem Genom, Wissenschaft von der Natur emanzipiert also.
Die Cyborgs aus „Bladerunner“ (USA1982) sind also doch erstrebenswert, wenn sie nicht wie Axel Holsts Rolle aussehen. Rueb lässt die Welt erneut kreisen. Was folgt, ist ein Drum’n’bass-Massaker auf dem Frankensteinschen OP-Tisch und das kurze Leben der schicken Braut. Das Wesen bleibt das einzige seiner Art und es wird auch optisch immer menschlicher, also nicht nur schlauer und böser. Die natürliche Ordnung ist zerstört. Als das Wesen final Frankensteins eigene Braut vergewaltigt und tötet, kommt es zum letzten Showdown der zwei Monster in der Arktis. Wer wohl zuerst am Magnetpol ist?
„Frankenstein“ | R: Gustav Rueb | So 4.10. 19 Uhr, Mi 21.10., Fr 6.11. je 19.30 Uhr | Grillo Theater, Essen | 0201 812 26 00
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