Es gehört zur Tradition von Filmfestivals, dass die PreisträgerInnen sich nach der Verleihung für Pressefotos zusammenfinden. Unüblich ist dagegen, dass sich wie an diesem Samstagabend ausschließlich Regisseurinnen vor dem blicke-Plakat aufreihen. Denn Kino- und Fernsehstrukturen werden bekanntlich noch immer vor allem von weißen Männern dominiert. Die Jury (Maren Kuhlmann, Maxi Braun und Robert Bosshard) und das Publikum haben in der 27. Ausgabe des Ruhrgebiet-Festivals ausschließlich Filme von Frauen geehrt.
Gründe dafür lieferten die Sujets und Schieflagen, mit denen sich die Künstler*innen auseinandersetzen und damit Perspektiven jenseits des Patriarchats eröffneten: ob dokumentarisch oder fiktiv, experimentell oder konventionell. Letzteres trifft zwar auf Ulrike Korbachs Dokumentarstreifen „Nachts kommen die Bilder“ zu. Doch ihr einfühlsames Porträt der ehemaligen Zwangsarbeiterin Czeslawa Wölfel überzeugte die Jury so sehr, dass sie den Hauptpreis an diesen Beitrag verlieh, der bereits vor sieben Jahren beim blicke-Festival eingereicht wurde. Damals überschritt noch die Laufzeit die erlaubte maximale Länge.
Nun kürzte Korbach ihr Werk auf knappe 45 Minuten. In bester Cinéma-vérité-Tradition begleitet sie die ehemalige Zwangsarbeiterin Czeslawa Wölfel in ihren letzten Lebensmonaten. Und lässt sie einfach erzählen, etwa über die schrecklichen historischen Umstände, die ihre persönlichen Pläne verhinderten, vom Besuch eines Gymnasiums bis hin zur Rückkehr nach Polen. Und immer wieder spricht sie über das Trauma mit ihrem gewalttätigen Ehemann, der ihre Kinder schlug. Die Jury würdigte Korbach für ihr eindringliches Porträt über familiären Zusammenhalt. Denn ihr gelingt es, in ihrem Langzeitprojekt die Familienmitglieder zu Wort kommen zu lassen, ohne in einen Voyeurismus abzudriften, in den sich so viele Gegenwartsproduktionen ergießen.
Das Publikum verhalf mit den Stimmzetteln dem Kurzspielfilm „Nicht im Traum“ zur Kür. Regisseurin Astrid Menzel inszeniert in ihrem Beitrag den Alltag von Paul und Elisabeth (Ulrich Voß und Monika Lennartz), ein altes Ehepaars, das mit der eigenen, körperlichen Gebrechlichkeit konfrontiert ist. Und doch wehren sie sich gegen fremde Hilfe. Ihren eigenen Verfall wollen sie nicht anerkennen. Menzel erzählt das mit einem feinen Gespür für die Lebenswürde im Alter und scheut sich auch nicht, die unschönen Momente zu zeigen. Alleine die Nächte im Ehebettpaar zeigt sie als Tour de Force, in der sich Paul einnässt, Schlaftabletten nehmen muss oder von Alpträumen geplagt wird.
Der gender&queer-Preis ging an „Riot not Diet“, ein 17-minütiges Punk- und Feminismus-Manifest. Denn Regisseurin Julia Fuhr Mann lässt gesellschaftliche und körperliche Normen ins Leere laufen, indem sie etwa Berliner Aktivistinnen stolz nackt vor die Kamera treten und ihre Rundungen zeigen lässt, die eben nicht dem westlichen Schönheitsideal entsprechen. Das ideologische Geheimnis hinter dem Body Shaming wird gleich eingangs gelüftet: Als die Darstellerinnen in der U-Bahn sitzen, wird in einer offiziellen Durchsage der Körper als Ressource der Kapitalverwertung gepriesen.
Annika Birgel freute sich über den Querdenkerpreis, gestiftet von trailer-ruhr. Ihr Beitrag „023_GRETA_S“ beginnt zunächst als klassische Casting-Situation: Greta stellt sich für ihre Rolle vor. Doch der Regisseur übt mit intimen Fragen einen psychischen Druck auf sie aus. Birgel inszeniert geschickt jenen männlichen Machtmissbrauch, der in der MeToo-Debatte angeklagt wurde. Die Idee dazu kam ihr jedoch, bevor der Diskurs über sexuellen Missbrauch im Filmgeschäft aufkam. Denn solche Erfahrungen machte Birgel selbst, als sie einige Jahre im Casting-Bereich tätig war. Persönlich fand sie sich in einer ähnlichen Situation wieder. „Das Vorstellungsgespräch lief gar nicht gut“, erinnert sich die Wienerin im Gespräch mit trailer. Vor den Dreharbeiten sprach sie mit anderen Schauspielerinnen. Die Erkenntnis ihrer Recherche: „Ich bin nicht die Einzige, die das so erlebt hat. Das ist sehr subtil“, so Birgel. Um das darzustellen, lässt sie den Regisseur weitgehend unsichtbar bleiben. „Ich wollte den Machtmissbrauch darstellen, ohne ein Gesicht dafür zu zeigen.“ So hört das Publikum nur seine Anweisungen und Fragen. Während sich die Verunsicherung in Gretas Gesicht als unmittelbare Reaktion abzeichnet.
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