Katastrophen begegnen uns über das Netz täglich, stündlich, minütlich. Es scheint kein Entkommen zu geben. Den Gegenbegriff „Anastrophe“ kennen die wenigsten. Das sollte sich ändern. Er bedeutet: „unwahrscheinliche, aber mögliche Wendung zum Besseren“. Seit fast einem Jahr brütet die „Europäische Gemeinschaft für kulturelle Angelegenheiten“ (kurz EGFKA) nun schon im Ringlokschuppen Mülheim über dem alternativen Szenario.
Entspannt sitzen fünf Mitglieder der EGFKA im Halbkreis im Bühnenraum der Bühne 2 des Ringlokschuppens. In Privatklamotten, ganz unaufgeregt. Schließlich soll die Veranstaltung „Die Anastrophe proben“ auch keine fertige Inszenierung, sondern vielmehr ein Zwischenstopp auf dem Weg zu einer sein, das Ergebnis eines theoretisch-praktischen Bootcamps: Eine Woche lang haben das Kollektiv und einige seiner Assoziierten diskutiert, gelesen, gesungen, ausprobiert und Ergebnisse einer der kürzlich von ihnen veranstalteten Konferenz „What happended to the European dream“ ausgewertet.
Denn wer glaubt, die Anastrophe zu proben, sei eine lockere Angelegenheit, irrt. Die EGFKA beginnt ihre Lecture Performance mit einer Lesung aus dem Stück „Der Weltuntergang“ von Jura Soyfer, einem Schriftsteller, der 1938 im Konzentrationslager Buchenwald an Typhus starb. Die erste Szene erzählt von einem Treffen zwischen Sonne, Mond, Saturn, Mars und Venus, die darüber beraten, was mit der Erde zu tun ist, die sich seltsam verhalte. Grund seien die Menschen, die die Erde krank machten. Die Sonne entscheidet daraufhin kurzerhand, Konrad den Kometen auf die Erde donnern zu lassen und sie so zu „entmenschen“ – ergo: sie zu heilen. Das Proben der Anastrophe beginnt also keineswegs konstruktiv, sondern mit dem absoluten Gegenteil, der Idee der totalen Zerstörung. Durch die Wahl des Autoren sogar auf zweifache Weise: Mit der bereits geschehenen Katastrophe des 20. Jahrhunderts und der, die häufig in Science-Fiction-Filmen und Hollywood-Katastrophenfilmen bebildert wird.
Überraschenderweise nimmt die Lecture Performance, die als kleiner „Vorgeschmack“ auf die eigentliche Inszenierung im Juli 2017 angekündigt wurde, dann ordentlich Fahrt auf. Auf einer großen Leinwand laufen Ausschnitte aus Katastrophenfilmen wie Roland Emmerichs „2012“, untermalt von der passenden, donnernden Musik.
Die Lesenden verlassen fluchtartig den Halbkreis und schlüpfen in Maleranzüge aus dem Baumarkt. In der folgenden Stunde werden die Zuschauenden förmlich mit allem bombardiert, was die Gruppe in der letzten Woche erarbeitet hat. Ein Kubus aus Wellblech dient als „Panic-Room“, aus dem immer wieder jemand persönliches berichtet, übertragen durch eine Kamera: „Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht. wenn die Bombe hochgehen würde. Dann wäre wenigstens Schluss“ oder „ In der Zombieapokalypse rücken die Menschen zusammen.“
Die Voraussetzungen für die Weltrevolution werden vorgetragen, die nahende Zombieapokalypse mit Kafkas Erzählung „Bau“ verwoben, Bilder von einer verlassenen Welt gezeigt und das traurigste Lied überhaupt – „Gute Nacht“ aus Schuberts Winterreise – eingespielt.
Bis zum Schluss ist nicht klar, wie viele PerformerInnen beteiligt sind. Die Formationen wechseln ständig. Auch das Publikum kann sich nicht einfach zurücklehnen, sondern wird hoch auf die Empore geschickt und wieder herunter beordert. Aber natürlich nicht irgendwie, sondern untermalt durch den Weltuntergangsschlager „Gehn ma halt a bisserl unter“ von eben jenem Jura Soyfer. Es entsteht eine sorgfältig durchdachte Text- und Bewegungscollage.
Aber wo bleibt denn nun die Anastrophe? Sie kommt, ganz am Ende der Performance. Die Zuschauenden werden gebeten, es sich auf einer Goldfolie bequem zu machen. Die ist nicht sehr groß, es wird kuschelig. Dazu wird ein Text vorgelesen von dem Tag in einer fernen Zukunft, in der es plötzlich keine Elektrizität und keinen Zugang zu Medien mehr gibt. Die Menschen in der Geschichte versammeln sich zur Nacht im Park und schlafen ein, mit Blick auf den Sternenhimmel – endlich zusammengerückt.
Um die Anastrophe zu imaginieren braucht es erst die möglichst genaue Kenntnis der Katastrophe – so könnte die These dieser Performance zusammengefasst werden. Denn auch wenn wir uns täglich mit ihr konfrontiert sehen: Wissen wir wirklich wovon wir sprechen, wenn wir über die Katastrophe sprechen?
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