Leere Straßen, verwaiste Plätze, geschlossene Geschäfte – die bundesweiten Schutzmaßnahmen während des ersten Krisenhöhepunkts der Corona-Pandemie führten zu einem erzwungenen Rückzug der Menschen in ihre Häuser und Wohnungen. Übrig blieben jene, deren Zuhause sich keiner festen Adresse zuordnen ließ. Mitbürger, die über keinen Schlüssel zu einem überdachten, Schutz versprechenden Heim verfügen. Mehr als zuvor waren diese Kölner in den ersten Wochen des Lockdowns den Witterungen und der Willkür anderer Personen überlassen, denn nicht wenige Sozialeinrichtungen waren nicht ausreichend besetzt oder benötigten Zeit, sich auf die neuen Herausforderungen ein-, bzw. umzustellen. Schnelle Hilfe, auch in Bezug auf Übergriffe, wurde zu einem Fremdwort, denn Polizei und Rettungskräfte mussten sich verstärkt anderen Herausforderungen wie häuslicher Gewalt oder illegalen Personenansammlungen widmen. Auch der Zivilcourage mangelte es schlichtweg an tatkräftigen Personen, die sich in der Öffentlichkeit für bedrohte Menschen einsetzen.
Abwesenheit menschlicher Güte
Mit der Buchveröffentlichung „Die Letzten hier – Köln im sozialen Lockdown“ zeichnet Herausgeberin und Mitautorin Christina Bacher das Bildnis einer Geisterstadt, die vor allem von der Abwesenheit menschlicher Güte geprägt ist. Zusammen mit Betroffenen, die „Platte machen“ und Lyrikerin Sabine Schiffner, deren freie Zeilen aus dem Gedichtzyklus „Denk Mal“ das Werk bereichern, spiegelt die Publikation eine Stadtgesellschaft wider, die von Kälte, Isolation sowie Inhumanität bestimmt wird: ein Verrat an der Würde des Menschen. Geschlagen, getreten, gedemütigt oder unbemerkt erfroren – so liest sich im Zuge der Pandemie eine Bilanz des Versagens christlicher Werte in der Stadt Köln. Für obdachlose Menschen bedeutete Covid-19 die Degradierung zu Personen vierter Klasse.
Das Buch ist prall gefüllt mit Lebensgeschichten, die daran erinnern, wie schnell die vermeintlichen Sicherheiten „Job“ und „Wohnung“ wegbrechen können. Die Seiten erzählen von Menschen wie Caroline, die von Familienmitgliedern wegen Mietrückständen aus dem Haus ihres Onkels hinausgeklagt wurde und mit ihrem Partner in einem alten Wohnwagen unter der Gürtelstraße in Nippes ohne Strom und fließendes Wasser lebte. Wärme spendeten mitunter nur ein paar Kerzen, bevor die beiden nach einem Labyrinth aus Behördengängen und von Kakerlaken bevölkerten Unterkünften durch das Wohlwollen eines Vermieters ein Zimmer fanden, in dem man zur Ruhe kam.
Tragödien und Momente der Zuversicht
Auch Konstatin aus Rumänien offenbart sein Schicksal. In seiner Heimat habe er seine Familie nicht mehr ernähren können, deshalb habe es ihn nach Deutschland gezogen, so der gelernte Koch. Nachdem ihn seine Frau verließ und das Sorgerecht für die Töchter erhielt, blieb dem Familienvater als Trost noch das alte Akkordeon seines Großvaters, auf dem er Volkslieder spielte und sich so ein Zubrot erwarb. Doch das geliebte Instrument wurde während des Lockdowns spieluntauglich – ein weiterer Schicksalsschlag für Konstatin, der nur gelegentlich bei Freunden unterkommt. Der Spendenaufruf einer Streetworkerin auf der Facebook-Seite des Straßenmagazins „Draussenseiter“ bedeutete einen Lichtblick für den 48-Jährigen. Ein Musiker meldete sich und verschenkte eines seiner Instrumente.
Das Anliegen von Herausgeberin Christina Bacher ist es, neben den Tragödien auch Momente der Zuversicht zu transportieren. Für ein Happy End reicht dies in den meisten Fällen nicht, doch die Hoffnung pulsiert als leises Pochen durch das Werk. Eindringliche Fotografien, Interviews mit ehrenamtlichen Helfern und zahlreiche Kontaktadressen ergänzen die Publikation.
Christina Bacher (Hrsg.): Die Letzten hier – Köln im sozialen Lockdown | Daedalus Verlag | 143 S. | 12 €
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