Es ist einer dieser magischen Momente: auf YouTube entdeckst du in der Marginalspalte rechts eine Band, die dein Herz höher schlagen lässt. Du spielst sie anderen musikbegeisterten Menschen vor, diese nicken. Dann kriegst du mit, dass die Band auf Tour in Deutschland ist und zwischendrin einen Abend frei hat – deine Freunde nicken immer noch – und du buchst die Band für ein Konzert in deiner Heimatstadt. Ungefähr so kam es zu dem Auftritt von Cigarettes after Sex in der Bochumer Christuskirche, als die Band noch ein Geheimtipp war. Natürlich ist es nicht immer so einfach, aber was die Konzertreihe Urban Urtyp seit 2010 auszeichnet, ist die DIY-Mentalität: Musik ist am besten, wenn sie gerade passiert. Herzensdinge zählen mehr als kommerzielle Erfolge, die persönliche Überzeugung der lose zum Booking-Kollektiv verbandelten Musikfans fließt in die demokratische Abstimmung ein. Gemeinsam wird vereinbart, was „urban” genug ist, um für ein Konzert angefragt zu werden, ohne dass dieses Kriterium jemals totdefiniert wird. Und alle packen beim Bühnenaufbau ebenso an wie beim Bestimmen des musikalischen Programms.
Immer sonntags, immer 19 Uhr, immer 10 Euro, einmal im Monat, jedes Mal mit der Option, bisheriges Denken und Fühlen über Musik durcheinanderzuwirbeln. Mal Jazz, mal Ambient, dann Klassik oder Electro-Swing, zwischendurch Indie-Pop und dann wieder Minimalismus – Hauptsache live und intensiv. Der 10x10m große Kubus aus transparenten PVC-Lamellen, den die Bochumer Jungs und Mädels vor dem Altar der Christuskirche als Kristallisationsraum des musikalischen Geschehens aufstellen, ist das Gegenteil einer sicheren und bequemen Genreschublade. Draußen vor der Kirche der Platz des europäischen Versprechens, drinnen der Kubus als Platz des musikalischen Versprechens: immer anders, immer gut.
Dieser Mut, die Neugierde des Publikums wieder und wieder offensiv herauszufordern, wurde aktuell auch mit „Applaus” belohnt. So nennt die Bundesregierung ihren „Preis für die Programmplanung unabhängiger Spielstätten“. In der Sparte Konzertreihe und Clubs wurde Urban Urtyp mit 30 weiteren Veranstaltungsorten als „qualitativ anspruchsvoll, trendsetzend und kreativ“ ausgezeichnet. Viele blumige Worte und eine gute Handvoll Geld für die, die bislang ohne staatliche Förderung, nur mit einer ersten Anschubfinanzierung, für kulturellen Reichtum jenseits des Mainstreams sorgten. Aber was ein echter urbaner Urtyp-Utopist ist, den ficht das nicht an. Auch wenn eine solche Auszeichnung der Bundesregierung in der Szene Wellen schlägt und jetzt tatsächlich mehr spielfreudige Bands an die Tür klopfen: Mit einem anständigen Schlegel Bier der Sorte „Urtyp“ in der Hand wird Bescheidenheit geübt und nicht das eigene Ego, sondern die Musik zelebriert. Die nächste Gelegenheit dazu bieten die „Friends of Gas“ am 3. Dezember mit bösegutem noisigen Post-Punk, der alles Nebensächliche kalt verbrennt.
Friends of Gas | So 3.12. 19 Uhr | Christuskirche, Bochum | www.urbanurtyp.de
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