Ema Jolly mag Klassik, sprich: Musik als intellektuelles Ereignis. Und sie mag jene topmodernen kleinen Geräte, die Bassfrequenzen in Vibration übersetzen und sie so am ganzen Körper spürbar machen. Bösen Zungen zufolge war Dubstep ja nie etwas anderes: kein musikalisches, immer nur ein körperliches Ereignis, hervorgerufen durch die kellertiefen Sounds, die diesen Musikstil auszeichnen. Emika, so heißt Ema Jolly hinter Mikrophon, Klavier und Apparaten vereint all diese Gegensätze: Geist und Körper, Verstand und Sinnlichkeit, Klassik und Elektro. Auf den Punkt gebracht: Sie macht großartige Musik. Nicht nur im stillen Labor, in dem sie ihre sphärischen Sounds züchtet, sondern auch live. Am vergangenen Sonntag (15.1.) in der Christuskirche im Herzen Bochums. In den Pott geholt hat sie – wer auch sonst – das Team der Konzertreihe Urban Urtyp.
Emika gehört ja eigentlich in den Club, nicht in den Kubus. Zumindest, was den Großteil ihres Werks betrifft, könnte man meinen: 2010 veröffentlichte sie das bis heute großartige „Drop the Other“ und zeigte, dass aggressiv gesetzte Pausen (oder Bässe, die so tief sind, dass ich auch nach sieben Jahren keine Box finde, die sie hörbar machen) mehr knallen können, als jede noch so komprimierte Kickdrum. Es folgten: Emika, Dva, Drei und nebenbei ein Umzug nach Berlin, ein Job als Sounddesignerin und ein Klavier-Album. Ein Studium der Musikproduktion und klassische Ausbildung am Flügel brachte die Britin schon von Haus aus mit. „Drop the Other“ war noch guter, alter Dubstep, wenn auch an den Grenzen des Genres. Auf späteren Alben sind die einzelnen Genres elektronischer und anderer Musik nur noch Versatzstücke neben anderen, so wie auch ihre Stimme nur ein Instrument, besser: ein Sounderlebnis neben anderen darstellt. Deshalb mag Ema Jolly auch diese topmodernen Geräte: Ihre Musik zielt direkt auf den Körper, aufs Nervensystem – und gleichzeitig kann sich der Verstand genüsslich in den komplexen Strukturen und Schichtungen ihrer Songs verlieren.
Deshalb ist es zunächst etwas irritierend, wenn Emika nicht live vor einer tanzenden, ekstatischen Meute produziert, sondern im für die Konzertreihe obligatorischen Stahlstangen-Fleischervorhangs-Würfel vor ihren Geräten steht, Welten aus Sinus-Kurven erschafft und dabei begutachtet wird wie ein exotisches und lebendiges Museumsexponat. Andererseits: Wenn der Körper ruht, tanzt der Verstand. Irgendetwas muss nämlich zwangsläufig tanzen, wenn Emika hinter ihren Geräten steht. Und dass die etwa 200 Zuhörer nicht direkt auf den zur Tanzfläche freigeräumten Platz im Kubus vor dem Alter stürmen, spricht weder gegen das Konzert noch die Künstlerin: eher mit einer seltsamen, fast schon sakralen Aura des Respekts, den Künstlerin und Kubus an diesem Abend umgibt.
Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten tanzen. Und als DJane setzt Emika selbstverständlich keine Konzertpause in der Mitte, wenn dann erst das Publikum locker wird. Sie spielt weiter: „Centuries“, Weltuntergangsbässe und etwas Pathos im Gesang, exakt die richtige Dosierung. „Mouth to mouth“, ein Song zum psychotischen Dahinschmelzen im Endorphinrausch. „Battles“, dessen pumpende Bassline im Hall der Kirchenwände erst richtig zur Geltung kommt. Und „Wicked Game“, eine gefühlvolle Ballade auf Elektro-Grundlage – ein Hybrid, an dem schon so viele Produzenten gescheitert und in Kitsch ertrunken sind. Aber Emika schwimmt, nein sie schwebt.
Als sie kurz vor Ende des Konzerts, etwas unsicher, dann doch einfach das Publikum fragt, ob es nicht doch gerne eine Pause hätte, winken die Zuhörer ab. Nicht aufhören. Weitermachen. Bitte. Etwas weiter unten (die Bässe). Eine kleine Umbaupause gibt’s dann doch, gefüllt mit liebevollen Gruß- und Dankesworten an das Urban-Urtyp-Team. Und zum würdevollen Schluss spielt sie dann noch auf dem Flügel, einen Auszug aus ihrer Sinfonie „Melanfonie“, die Ende des Monats erscheint, aufgenommen mit dem Prager Metropolitan Orchestra. Und alles, Klassik und Elektro, Körper und Geist, Tanz und Denken verschwimmt zu einem erfüllenden, wärmenden Bauchgefühl und zieht sich durch den ganzen Körper. Es war wirklich schön. Vielleicht können wir das wiederholen. Aber es soll ja auch etwas Besonderes bleiben. Und ja, das war es.
Zum nächsten Urban Urtyp-Konzert am 5.2. (immer sonntags, immer 19 Uhr) fordert das Sonic Art Lab Ensemble unsere Hörgewohnheiten auf genussvolle Weise heraus.
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