Die Urtyp-Saison neigt sich dem Ende zu: Während bald die ersten Outdoor-Festivals im Revier starten, verabschiedet sich Bochums spannendste Konzertreihe für alles Gute jenseits des Mainstreams in die Sommerpause. Nach einer recht elektronischen Saison mit Hochkarätern wie der düsteren Emika und dem Bochumer Dubstep-Produzenten Numinos wird es zum Ende hin bodenständiger: Karsten Riedel, das Gesicht der hiesigen Theatermusik, gab am Sonntag ein Klavierkonzert mit Regen. Aber nur gebietsweise.
Gebietsweise Regen sind Riedel am Klavier, Oliver Ruschenburg an der Gitarre und Janni Weichsel an der Violine. Eigentlich sollten die Punk-Legenden The Idiots das furiose Finale der Saison bilden. Der Zufall und eine Kehlkopfentzündung bescherte den Urtypen dann ein gefühlvolleres, konventionelleres, aber auch musikalisch ergreifendes Finale. Riedel beginnt allein, mit melancholischen Pianoklängen die den Hörer über mehrere Minuten auf eine kleine Reise mitnehmen. Eine Reise in das Wales des frühen 20. Jahrhunderts, zum Lyriker Dylan Thomas oder zu Shakespeare ins London der Renaissance: Riedel hat die Gedichte der Literaten vom stummen Papier in eingängige, doch niemals zu poppige Songs übersetzt. Sind Götter in den Wolken, weinen sie wenn es regnet und sprechen sie schweigend von Vergangenem wie Kiesel am Strand? Dylan Thomas fragt es Jahre nach seinem frühen Tod durch die Lippen von Karsten Riedel.
Der Kubus ist zum Saison-Schluss gut gefüllt: Vor Konzertbeginn holt jemand zwei Schlegel-Kisten als Sitzgelegenheit herbei, in den ersten Reihen sitzt das Publikum nur eine handbreit von den Musikern entfernt. Die Atmosphäre ist persönlich, familiär, schließlich ist Riedel für Bochumer Kulturliebhaber ein bekanntes Gesicht: Wichtige Stationen in der Karriere des gebürtigen Wattenscheiders waren die musikalische Leitung bei der legendären Inszenierung „A Tribute to Johnny Cash“ im Schauspielhaus Bochum, mit seiner Band Alpha Boy School hat er Bochumer Ska über Ungarn bis nach Japan gebracht, und als Solo-Musiker war er auch für das Thalia Theater Hamburg, das Schauspiel Essen und das Wiener Burgtheater aktiv. Außerdem ist er Teil der b-Bande, jenem losen Kollektiv rund um das Bochumer Bühnenmonster Arne Nobel, das leider viel zu selten zusammen kommt.
Von Riedel wird in Bochum zum Glück bald wieder zu hören sein: Das „Tribute for Johnny Cash", das er musikalisch betreut hat, ist am 14. Mai das nächste Mal im Schauspielhaus Bochum zu sehen. Bloß die Urtypen schweigen erst einmal. Bis zum September, wenn nach dem traditionellen Vorspiel der Kubus wieder in der Christuskirche aufgebaut wird. Erste musikalische Entdeckungen hat das Team schon ausgegraben. Und bis dahin lohnt es immer noch, sich durch die Werke der diesjährigen
Urtyp-Gäste zu hören.
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