„Is this the real life? Is this just fantasy? Caught in a landside, No escape from reality.“ Immer wenn ich eine Virtual-Reality-Brille sehe, muss ich an diese Freddy Mercury-Zeilen denken. Nur theoretisch kann man damit das Reale überwinden, praktisch bleibe ich eine Fleischhülle, deren Wahrnehmung filmisch digital etwas vorgegaukelt wird. Oder?
Im Ruhrgebiet hat die virtuelle Welt schon länger die Schaukasten-Theaterbühne überwunden, nach „Der Reichsbürger (360°)“ inszeniert Regisseur Thomas Krupa mit „Die Wand“ einen zweiten VR-Film am Schauspiel Essen. Die Besucher:innen tauchen in diese Szenerien, wo immer sie sich auch befinden – das immersive Schauspiel setzt auf gnadenlose Nähe, wenn der Mensch sich für eine festgelegte Zeit kontinuierlich (und das ist wichtig) darauf einlässt. Dann aber findet er sich in einer Welt wieder, in der nichts mehr so ist wie es einmal war und in der es auch nicht mehr wieder so werden wird.
In Marlen Haushofers Roman-Fiktion aus dem Jahre 1963 (kein Science-Fiction!) wird eine Frau über Nacht aus der räumlichen Wahrnehmung gerissen, eine unsichtbare Wand trennt ihre Welt ab dem Morgen von einer anderen, zwar normal scheinenden, aber ebenso ungewöhnlichen Seite einer schier eingefrorenen Realität. Flucht ist unmöglich. Auf sich allein gestellt, muss sich die Frau dem Überleben stellen, an ihrer Seite nur Hund Luchs und – unentdeckt – die Besucher:innen, bzw. User:innen des Schauspiels Essen, die ihre VR-Brillen mit abspielbereitem Film per Kurierdienst im Essener Stadtgebiet geliefert bekommen haben.
Für Alle ist nun die Trennung zwischen Mensch und Natur aufgehoben, die Allegorie zum Hier und Heute und zur möglichen biologischen Apokalypse für den Homo sapiens präsent. Krupa legt in seiner VR-Fassung des Romans eben den Fokus auf die, ich zitiere: „prophetische Ökologiekritik der Autorin“. Lustvoll tauchen wir also ein mittels 360°-Blick und 3D-Klang in den epischen Kampf mit Klima und Wetter, mit Erinnerungen und Ängsten, bis dann nach endlosen Monaten plötzlich ein zweiter Mensch auftaucht. Doch ob der den „Alptraum der unnatürlichen Existenz“ beenden kann, bleibt abzuwarten.
Die Wand (360°) | 2. (P)., 3., 4., 8., 9., 10., 11., 15., 16., 17., 18., 22., 23., 24., 25., 29., 30.9. | Digitale Bühne des Grillo-Theater, Essen | www.theater-essen.de
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