Rafael Sanchez inszeniert in Essen Nora Abdel-Maksouds Komödie „Jeeps“. Da geht es um eine „Neiddebatte“ anderer Art. Bald schon soll das Erbe aller Bürger:innen eingezogen und dann fair verlost werden. Mit gleichen Chancen für alle?
trailer: Herr Sanchez, mehr als die Hälfte der Deutschen bemängelt die Einführung des Bürgergelds. Eskaliert die Neiddebatte eigentlich immer weiter?
Rafael Sanchez: Ja, 59% sind der Meinung, dass das Bürgergeld zu hoch ist. Es ist interessant, dass so viele Leute immer nach unten treten anstatt nach oben zu schauen. Das ist vergleichbar mit dem sogenannten Lotterieeffekt. Die Menschen sind gegen die Besteuerung der Superreichen, weil sie denken, dass sie vielleicht selber mal im Lotto gewinnen, und dann viel zu hohe Steuern bezahlen müssten, aber die Chance, dass man auch mal das Bürgergeld benötigt ist ja viel größer als ein Sechser im Lotto. Es wäre schlauer, für ein höheres Bürgergeld zu kämpfen, und noch schlauer wäre es, sich für einen angemessenen Mindestlohn einzusetzen. Die Neiddebatte entsteht, weil einige denken, dass andere aus Faulheit nicht arbeiten gehen. Das ist so ein absurder Gedanke. Niemand macht das freiwillig. Vielleicht 2-3%, eine verschwindend geringe Anzahl von Menschen. Frau Weidel und Herr Merz behaupten dann einfach, dass die Mehrheit Schmarotzer sind und spalten damit mutwillig die Gesellschaft. Deutschland ist ein Niedrig-Lohnland, die CDU und die SPD haben es bewusst da hingeführt. Die Quittung kommt jetzt mit voller Wucht auf den Tisch. Was helfen würde, ist die hohen Vermögen korrekt zu besteuern und die arbeitenden Menschen anständig zu bezahlen.
Das Stück ist eine aberwitzige Komödie, es heißt „Jeeps“. Geht es also auch um große Geländewagen?
Genau, da ist ein „kleiner“ Beamter, der im Jobcenter arbeitet. Der hat mehrere Jahre auf einen Geländewagen gespart und kommt jeden Tag mit diesem riesigen Mercedes G Klasse zur Arbeit. Diese Absurdität ist der kleine Rest an Freiheit, die ihm übrig bleibt. Der Mensch braucht Freiraum, um auch Sinnloses machen zu dürfen. Hat er diese Freiheit nicht, fängter an, die AfD zu wählen.
400 Milliarden Euro sollen vererbt werden – im Stück werden sie per Los verteilt. Ist das die Lösung?
Das Stück wurde vor Corona geschrieben, die Reichen haben ja richtig gut verdient während der Pandemie. Das sind jetzt über 500 Milliarden, die vererbt werden pro Jahr. Die Handlung des Stücks spielt im Jobcenter und die Regierung hat eine Reform eingeführt, die besagt, dass ab jetzt der Staat jedes Erbe bekommt und es dann per Los an die Bevölkerung verteilt wird. Jede:r ist berechtigt, ein Los zu beantragen. Natürlich ist das nicht die Lösung, aber es ruft uns auf eine charmante Art ins Bewusstsein, dass Erben reine Glückssache ist. Eine sogenannte Eierstock-Lotterie. Und das eigentlich niemand etwas dagegen haben kann, ein horrend hohes Erbe maximal zu besteuern. Wir reden ja nicht über das Elternhaus oder hart erspartes Geld, das wird vom Staat ja bereits heute nicht angefasst.
Wie entgeht man in der Inszenierung der Gefahr, im Klamauk abzustürzen?
Bei diesem ernsten Thema ist eher die Frage, wie kriegt man den Klamauk, den Spaß da rein. Zum Glück ist das Stück schon so geschrieben, dass man sich mit dieser komplexen Thematik gerne beschäftigt. Das ist die Kunst der Autorin Nora Abdel-Maksoud. Sie schafft es, eine Komödie über einen Stoff zu schreiben, welcher eigentlich überhaupt nicht zum Lachen ist.
Hilft auch die Choreografie auf der Bühne? Also viel hin und her Gerenne?
Das kommt darauf an. Wir haben ja eine große Bühne, wir können sogar drehen und wir haben verschiedene Spielorte. Natürlich passiert da viel. Aber oft lenkt Aktionismus auch ab vom Thema. Das werden wir sehen. Man muss die Debatte, den Diskurs, der da verhandelt wird, als Zuschauer:in schon mitbekommen, damit das Ganze auch Spaß macht. Bei Mansur Ajang, Bettina Engelhardt, Christopher Heisler und Floriane Kleinpaß, die alle mitspielen, mache ich mir aber keinen Sorgen, dass es keinen Spaß machen wird. Die vier kriegen sogar „Gerenne“ lustig hin.
Gibt es denn wieder Flügeltüren wie in der Uraufführung?
Ich habe die Uraufführung, die sehr gut sein soll, leider nicht gesehen. Wir haben keine Drehtür, aber dafür, wie gesagt, eine Drehbühne. Noch besser!
Kann es sein, dass bei dem Stück von Nora Abdel-Maksoud Besucher aus dem Essener Süden fehlen werden?
Ich weiß es nicht. Alle Menschen aus dem Essener Süden in einen Topf zu schmeißen, ist ja auch nicht die Lösung. Grundsätzlich kann man ja aber schon sagen, dass Menschen eher ins Theater kommen, wenn sie sich auch repräsentiert fühlen. Und wenn man am Ende des Monats auch noch etwas übrig hat im Portmonee, wirkt sich das auch eher motivierend aus. Deshalb ist das Konzept der neuen Intendanz am Schauspiel Essen so gut und wichtig. Neues Deutsches Theater. Selen Kara und Christina Zintl versuchen mit ihrem Ensemble und ihrem Programm ein Bewusstsein zu schaffen, dass Theater für alle Menschen, die in einer Stadt leben, von Relevanz sein muss. Jahrzehnte war dem nicht so, das ändert sich zum Glück gerade.
Jeeps | So 21.1. 19 Uhr (P) | Grillo-Theater Essen | 0201 812 22 00
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