In ihrer Inszenierung von William Shakespeares „Hamlet“ setzt sich Regisseurin Selen Kara am Essener Grillo Theater toxischen Beziehungsmustern in der Gesellschaft auseinander.
trailer: Frau Kara, William Shakespeares „Hamlet“ wird auf deutschen Bühnen oft zur Lagebesprechung genutzt. Ist wieder was faul im Staate Dänemark?
Selen Kara: Ja, es ist wieder was faul im Staate Dänemark.
Warum haben Sie Hamlet ausgewählt?
Mich interessieren klassische Stoffe. Es hat schon einen Grund, warum manche Stücke oft gespielt werden und ihre Aktualität nicht verlieren, egal, welchen Wandel wir als Gesellschaft durchleben. Natürlich gibt es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten und Zugriffe auf die Handlung. Aber die komplexen Figuren und die großen Themen wie Betrug, Macht, Menschlichkeit bleiben aktuell und sind interessant, aus der heutigen Sicht zu beleuchten. Wir haben nach einem großen klassischen Erzählstoff gesucht, sind relativ schnell auf „Hamlet“ gekommen und haben uns mit den Figuren beschäftigt. So ist der Titel „Hamlet/Ophelia“ entstanden.
Findet das Theater ausgerechnet mit „Hamlet“ Strategien und Methoden für die Zeiten des Umbruchs?
Ja, aber nicht nur mit Hamlet. Das tun wir als Theater in erster Linie mit unserem Motto. Denn das ist nicht nur die eine Inszenierung, die alle Fragen gleichzeitig beantwortet. In unserer zweiten Spielzeit haben wir uns nach Neues deutsches Theater – Under Construction (übers.: Bauarbeiten im Gange, Anm. d. Red.) einen neuen Zusatz gegeben: Neues deutsches Theater – Common Ground (in etwa: Gemeinsame Basis, d. Red.). Wenn man sich den Gesamtspielplan ansieht, dann gibt es dort auch die Frage nach Strategien, wie das Theater ein Ort der Begegnung und des Austauschs sein kann, wo man möglichst viele Perspektiven vereint und Empathie fördert und Menschen, die vielleicht bisher nicht den Weg ins Theater gefunden haben mit denen, die immer im Theater sind, zusammenbringt. Denn gerade in diesen Zeiten sind Kommunikation, Austausch, Dialog sehr wichtige Komponenten. Aber was ich rein inhaltlich bei „Hamlet“ interessant finde, ist die Frage, was passiert mit einer Gesellschaft, die psychisch instabil ist, nachdem ein König gestorben ist, nachdem man eine Schlacht hinter sich hat. Was passiert in diesem Zustand, wenn bestimmte Narrative plötzlich in eine Gesellschaft implementiert und vergrößert werden? Was macht das mit den Menschen? Wenn man sich heute die Schlagzeilen anschaut, dann ist das ein hochaktuelles Thema.
Es gibt auch nicht nur das eine toxische Beziehungsmuster in „Hamlet“.
Hamlet ist eine tolle Figur, aber es gibt auch viele interessante, komplexe Figuren um Hamlet herum. Eine davon ist Ophelia, aber mindestens genauso wichtig sind auch Gertrud, Claudius, Polonius. Deshalb finde ich es wichtig, erst einmal das hierarchische System zu benennen, in welchem diese Figuren agieren. Im Stück ist es eine Monarchie, sind es patriarchale Strukturen, in denen wir uns bewegen. Es gibt den König – und wenn der stirbt, dann muss der nächste Verwandte nachrücken. Dieses System haben wir behalten, aber wir versuchen zu erzählen, was das innerhalb dieser Strukturen für die weiblichen Figuren bedeutet, denn auch sie sind Teil des Systems. Wir untersuchen, wer auf welche Weise kämpft und versucht, seinen Weg zu gehen. Welche Abhängigkeiten existieren innerhalb des Systems – und da ist man schnell bei den toxischen Beziehungen.
Trotzdem bleibt Ophelia die Mutter aller Wasserleichen.
Ich möchte nicht zu viel verraten, aber dieses ästhetisierte und romantisierte Bild der toten Frau im Wasser gibt es bei uns nicht. Ophelia ist ein Mythos. Welche Künstler:innen hat dieses Bild nicht schon inspiriert? Es gibt viele Zuschreibungen. Genau davon wollen wir uns auch freimachen. Was passiert, wenn man dieser Figur innerhalb dieser Strukturen mehr Handlungsspielraum gibt? Ich versuche in dieser Inszenierung, Ophelia zu einer aktiveren Figur zu machen, die einen eigenen Plan verfolgt.
Das passt zu den zunehmenden Femiziden, die wir gerade auf der ganzen Welt sehen.
Wir sind gerade mitten im Probenprozess und reden sehr viel darüber und versuchen, dieses verstaubte Bild der schönen Wasserleiche aus unseren Köpfen zu kriegen.
Also auch: „All beauty must die.“ (übers.: „Alle Schönheit muss sterben.“)
Das werden wir sehen.
Die Inszenierung soll eine ermächtigende Rückeroberung des Handelns sein. Was wird zurückerobert?
Weil „Hamlet“ ein so großer Stoff ist, gibt es zahllose Interpretationen, und es gab schon hunderte von Inszenierungen. Wenn man sich damit beschäftigt, taucht sofort Hamlet als Denker, als Zögernder auf und damit verbunden die Frage: Warum handelt er nicht? Es gibt Spiegelbildfiguren, wie Laertes, der sehr impulsiv handelt, rachsüchtig ist, aus Frankreich zurückkehrt und den Mörder des Vaters umbringen will. Fortinbras ist auch eine Spiegelung zu Hamlet. Shakespeare setzt Hamlet diesen handelnden Figuren entgegen. Ich empfinde es nicht so, dass Hamlet nicht handelt. Er verfolgt eine andere Strategie. Vielleicht denkt er in kürzeren Zeitspannen und macht von Szene zu Szene einen Plan. Ja, er ist ein großer Denker, er ist auch eine outstanding (übers.: herausragende, d. Red.) Figur, weil er das Potential hat, eine andere Ideologie in dieses System reinzubringen, er ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer. Hamlet steht für die nächste Generation, jede Figur verfolgt einen eigenen Plan. Wo clashed dann das Ganze und wie kommt es zu dem Kollateralschaden, der es am Ende ja ist, wo sehr viel Blut fließt.
Hamlet/Ophelia | 5. (P), 9., 16., 25.10. je 19.30 Uhr | Grillo-Theater, Essen | 0201 812 22 00
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