Die einstigen Ausbeuter kehren auf ihr überschuldetes Landgut zurück. Das Vermögen ist verprasst, das Exil Paris wurde zu teuer, nun muss man sich dem letzten Erbe stellen, das sie wohl auch verlieren werden. Der Kirschgarten wirkt darin wie ein Magnet, der nicht mehr von der Seele gelöst werden kann und so den Rest der ehemaligen Großgrundbesitzer in den Abgrund zieht – gut so. Anton Tschechow hat sein letztes Stück über den Abgesang feudaler Gesellschaftsordnungen wohl als tragische Komödie gebaut, doch eigentlich zeigt es hinter den Figuren auch die Tragödie der einstigen Leibeigenen und den wachsenden Realitätsverlust der Herrschenden, die den Rest des Jahrhunderts in ein Schlachthaus verwandeln werden. „Wo bleibt denn der Wohlstand für alle?“, fragt der Student Pjotr Sergejewitsch. Ihn nehmen die Herrschaften nur am Rande wahr, genau wie den neureichen Lopachin, dessen Vater bei seiner Knochenarbeit auf dem Gut nicht einmal die Küche betreten durfte.
Was die Inszenierung von Alice Buddeberg beherrscht – man spürt die Dekadenz, die das Handeln überschattet, die Lösungen ignoriert, weil man sich den alten feudalen Zustand wieder herbeisehnt und die gefüllten Kassen. Also etwas von dem das Grillo in Essen augenzwinkernd wohl auch träumt, ist doch ein Foto der Fassade von 1910 Ursache des Bühnenbilds (Sandra Rosenstiel) aus zwei Zuschauerrängen des historischen Gemäuers. Bäume gibt es glücklicherweise keine, auch die Zeit in dem die Handlung spielt ist undefiniert, genau wie die Kostüme. Sehr schön auch die Klammer mit dem übrig gebliebenen Diener Firs (Sabine Osthoff): „Alle weg und mich haben sie vergessen“, der wie ein Hausgeist durch die Geschichte schwebt.
„Der Kirschgarten“ | R: Alice Buddeberg | Do 6.6. & Fr 21.6. je 19.30 Uhr | Grillo Theater Essen | www.theater-essen.de/schauspiel
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