Warten ist pure Mystik: Ob wir für den Bus oder das Jenseits anstehen – im Warten dehnt sich die Zeit und macht uns empfänglich für übersinnliche Erfahrungen. Das gilt auch für die beiden Killer Gus und Pete in Harold Pinters „Der stumme Diener“, die todbringenden Bereitschaftsdienst haben. Wie so oft haben sie sich in einem Zimmer eingefunden, um auf den telefonisch übermittelnden Einsatz zu warten. Pete (Jan Pröhl) hockt breitbeinig auf dem Stuhl. Anzug, Haare und Schnauzbart im Stil der Achtziger oder im Tarantino-Revival-Style (Bühne und Kostüme: Friederike Külpmann). Er liest den Corriere della Sera, als ob die Mafia intellektuell geworden wäre, interessiert sich aber nur für außergewöhnliche Unfälle und packt dementsprechend immer mal wieder eine Prügelattacke aus. Was Pete das Lesen, das ist Gus das Teekochen. Beides strukturiert Zeit. Gus (Stefan Diekmann) trägt zum Anzug Arbeitsstiefel – Modern ist schließlich Maloche. Wenn seine Gliedmaßen Entschlusskraft demonstrieren, kommt ihnen regelmäßig ein Gedanke als Hemmschuh dazwischen.
Harold Pinters „Der stumme Diener“ bietet Hochenergiefutter für zwei männliche Schauspieler. Und so sind sie auch in Essen besetzt: Stefan Diekmann und Jan Pröhl sind das Beste, was das Grillo-Theater zu bieten hat. Und doch finden beide nie zu einem freien Spiel. Ihre Rollenporträts offerieren Zierkirschen ihrer Kunst, ohne durchgängig Haute Cuisine zu servieren. Dass Pinters „Locked-Room Mysterien“ als Theatermetaphern gedeutet werden, ist offensichtlich. Leben gibt es demnach nur auf der Bühne, außerhalb lauert die Gefahr. In Essen wird aus dem geschlossenen Zimmer allerdings ein öffentlicher Raum, der den Zuschauerraum auf der Bühne spiegelt. Und aus dem stummen Diener, über den dem Killerduo Essensbestellungen ins Zimmer flattern, macht Regisseurin Tabea Nora Schattmaier einen Geldwechselautomat – beides wird nicht wirklich schlüssig. Das Spektakel der gezückten Pistolen angesichts des ratternden Automaten lässt sich die Regie selbstverständlich nicht entgehen. Dass der erlösende Befehl zum Einsatz dann aus dem Bühnenhimmel kommt, ist in der beengten Box mit niedriger Decke auch nur mäßig komisch. So wirkt die Inszenierung am Ende doch eher unentschieden und gehemmt in ihrem Zugriff und ihrem Deutungswillen.
„Der stumme Diener“ | R: Tabea Nora Schattmaier | 29.5., 21., 29.6., 6.7. je 19 Uhr | Grillo-Theater Essen | 0201 81 222 00
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