Roma und Sinti sind in der politischen Diskussion um Zuwanderung allgegenwärtig. Man wolle den Zugewanderten helfen, die in ihrer Heimat unter Verfolgung und finanzieller Not litten, beteuert die Bundesregierung und sichert den Kommunen, die besonders viele Zuwanderer aufnehmen, insgesamt 275 Millionen Euro zusätzlich zu. Die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung dagegen ist zumindest laut Medienberichten verschwindend gering. Über die Mallinckrodtstraße in der Dortmunder Nordstadt wird dann gerne geklagt, dass die „Armutsflüchtlinge“ dort durch ihr „Hausen“ nur Dreck und Müll produzieren. Pauschalisierungen über Sinti und Roma treffen solange auf Pauschalisierungen über die negative Willkommensmentalität in der Bevölkerung, bis das Beschworene als Realität akzeptiert wird. Umso wichtiger ist es, einen unvoreingenommen Blick auf die Lebenssituation der Roma zu werfen, auf das Gefüge der Gemeinschaft, auf die Träume einzelner.
Anna Frances Ewert und Falk Müller haben diesen Blick geworfen und sind für ihren Dokumentarfilm „Nadeshda“ in eben jenes Ghetto gefahren, das das größte Roma-Ghetto Bulgariens ist. Kinder träumen von einem Leben außerhalb des Ghettos, üben fleißig ein Musikinstrument, das ihnen den Ausweg weisen soll. Eltern fürchten, dass ihre Töchter gekidnappt, missbraucht und verheiratet werden, ein alltägliches Drama, das bereits Elfjährigen droht. Junge Familien wünschen sich ein Zuhause, Arbeit und Bildung und werden mit dem Rassismus der „richtigen“ Bulgaren, wie sie sich selbst nennen, konfrontiert. Innerhalb der Gemeinschaft gibt es klare Grenzen zwischen den „strebsamen“ Roma und denen, „die sich nicht waschen und klauen“, wie bereits ein kleiner Junge zu berichten weiß. Dieser differenzierte Blick auf eine Bevölkerungsgruppe, die viel zu häufig als homogen angesehen wird, war der Jury des 22. blicke Filmfestivals den mit 1500€ dotierten Dokumentarfilmpreis Ruhr wert.
Der ebenfalls mit 1500€ dotierte Fiktionsfilmpreis Ruhr ging an „Markasit“ von Nico Joana Weber und damit an einen Film, der ganz neue und eindrückliche Winkel einer altbekannten und trockenen Bildungsinstitution erforscht, der Ruhr-Universität Bochum. Eine Frau streift durch die charmelosen Hörsäle und Bibliotheken über die grauen Flure bis zu den weiten Wiesen und macht das Gewöhnliche zu einer farbenkräftigen, ästhetischen Erfahrung.
Leicht makabre Unterhaltung bot Peter Böving mit seiner aus Legofiguren animierte Kriminalgeschichte, der für seinen originellen Witz den Preis für experimentelle Kunst und Animation gewann. Basierend auf einem aus reinen Zweisilbern basierendem Gedicht von Ernst Jandl lösen gewitzte Kriminalbeamte mit rasantem Sprachrhythmus die Todesursache einer jungen Frau, indem sie penibel ihren Mageninhalt untersuchen. So pathologisch dies klingt, so skurril gibt sich die kurze Enthüllungsstory.
„Enthüllen durch Verhüllen“, sagte einmal der Künstler Christo, der jüngst im Gasometer in Oberhausen die größte Innenraumskulptur der Welt inszenierte. Doch dem Kulturkritiker Robert Bosshard passt diese ganze Inszenierung nicht in den Kram. Zusammen mit einem Freund sinniert er zwischen dem Gasometer und der Cola-Oase, dort bei einer Pommes, über Sinn und Unsinn von Kunst, verteufelt die Privatisierung öffentlicher Räume sowie die Millionenverschwendung an Prestigeprojekte. In den Gesprächen werden viele Ebenen angesprochen, zu viele, als dass man, ohne um die Ecke zu denken, sie alle erfassen könnte. Kein Wunder also, dass der „Das übersteigt die Vostellungskraft“ von Tom Briele mit dem einmaligen Querkopf und der Aufforderung, quer zu denken den von trailer-ruhr gestifteten Querdenker-Preises erhielt.
Das Publikum entschied sich für Levan Tsintsadzes „Traumsequenz“, einen Super8-Film, der die Geschichte der ersten Liebe und der ersten Enttäuschung eines kleinen Jungen so einfühlsam und schön erzählte, dass ein jeder in sich die aufkommende Nostalgie verspürte ob der eigenen bitter-süßen Erinnerung.
Das blicke Filmfestival des Ruhrgebiets stellte auch in seinem 22. Jahr wieder einmal unter Beweis, dass viele Blicke mehr erzählen als ein einziges monumentales Bild, dass viele kleine Geschichten zu einer vielschichtigen, großen werden.
22. blicke-Festival | 19.11.-23.11. | Endstation Kino Bochum | www.blicke.org
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