Dr. Thilo Weichert (59) ist einer der aktivsten Datenschützer Deutschlands. Bis vor Kurzem war er oberster Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein und Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein.
trailer: Waren Sie persönlich vom Ausmaß der NSA-Überwachung überrascht?
Dr. Thilo Weichert: Nur im begrenzten Maße. Wir kannten als Datenschützer, die sich intensiv mit der Sicherheitspolitik der USA beschäftigt haben, die gesetzlichen Grundlagen, auf denen die Datenverarbeitung der NSA läuft. So wussten wir, dass eine geringe Kontrolle besteht und dass die Regeln der NSA weitestgehend freie Hand lassen. Wir kannten auch seit langem die hervorragende technische und personelle Ausstattung der NSA. Es gab den Echelon-Bericht des europäischen Parlaments aus dem Jahr 2001, der zeigte, dass im Prinzip schon alles angelegt war, was dann jetzt auf höherer Ebene von Snowden offenbart worden ist. Insofern waren wir nicht erstaunt, aber über die Dimension überrascht, die über die Jahre mit der Offenlegung der Snowden-Dokumente und Veröffentlichungen von WikiLeaks bekannt geworden ist.
Glauben Sie, dass unsere Politiker darüber unterrichtet waren und die jetzige Empörung nicht echt ist?
Dr. Thilo Weichert (59) ist einer der aktivsten Datenschützer Deutschlands. Bis vor Kurzem war er oberster Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein und Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein.
Ich gehe davon aus, dass die Politiker in Deutschland keine Vorstellung hatten. Ich vermute auch, dass diejenigen, die für die Koordinierung der deutschen Geheimdienste in der Politik zuständig waren, das alles nicht so genau wissen wollten. Das Wissen um die Dimension hätte das Bild einer deutsch-amerikanischen Partnerschaft beeinträchtigt. Ich gehe davon aus, dass der BND einen Überblick über die Tätigkeiten der NSA hatte, schließlich besteht dort eine Kooperation. Eine kritische Hinterfragung war hier aber nicht gewünscht.
Sie sagten in einem Interview, dass die Politik eine mangelnde Sensibilität in Sachen digitale Grundsatzfragen hat. Woran liegt das?
Die Politiker sind in ihrem Tun ganz stark von kurzfristigen medialen Ereignissen und Reaktionen geprägt. Was mit der NSA oder auch mit Fragen der Digitalisierung unserer ganzen Lebenswelt zusammenhängt, reicht meist weit in die Zukunft und verlangt sehr tiefe Reflexion. Das führt dazu, dass die Kenntnis, aber auch die Sensibilität für diese grundsätzlichen Existenz- und Freiheitsfragen in der Informationsgesellschaft sehr gering ausgeprägt sind. Und es ist rechtlich, technisch, organisatorisch, als auch politisch und diplomatisch eine komplizierte Geschichte. Deshalb ist da eher Abtauchen als intensive Beschäftigung angesagt.
Glauben Sie, dass den meisten Internetnutzern klar ist, dass sie im digitalen Raum Grundrechte haben, und wie sehen diese Grundrechte aus?
Nein, woher sollen sie es auch wissen. Die Auseinandersetzungen um den Datenschutz, das Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme sind Fachdiskussionen. Die Menschen haben eine Kenntnis davon, dass ihnen ein Grundrecht auf Datenschutz zusteht. Aber sie erfahren nicht, dass dieses Grundrecht auf Datenschutz, zum Bespiel gegenüber amerikanischen Anbietern, die die meisten ja nutzen, dass sie dieses Recht auch durchsetzen könnten.
Eines der zentralen Grundrechte ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ein weiteres das Recht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, eine Art Privatsphäre im digitalen Raum, ähnlich wie wir eine räumliche Privatsphäre in der eigenen Wohnung, oder soziale Privatsphäre in der Familie haben. Das ist in der Zwischenzeit auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannt. Dann gibt es die ganzen Meinungsgrundrechte, die im Internet eine große Rolle spielen. Also Meinungs- und Informationsfreiheit, Medien- und Pressefreiheit, die ganz zentral sind. Dann haben wir eine Vielzahl von politischen Grundrechten: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit durch die Möglichkeit, sich im Internet zu organisieren. Es entstehen ganz neue Möglichkeiten einer politischen Artikulation.
Welche Forderungen würden Sie konkret an die Bundesregierung stellen?
Was die Metaebene angeht, muss eine internationale Debatte über das, was sich digitale Grundrechte nennt, geführt werden. Diese Debatte muss mit Großbritannien, den USA, aber auch mit Staaten wie China, Indien, Russland geführt werden. Dann muss die Bundesregierung im Fall der NSA-Bespitzelung klar signalisieren, dass solche Praktiken mit unserem europäischen Grundrechtsverständnis nicht in Einklang stehen, und dann auch die notwendigen Schritte ergreifen, damit die Bespitzelung beendet wird. Dazu gehören auch rechtliche Schritte wie beispielsweise Verfahren wegen Spionage gegen US-Verantwortliche, oder diplomatische Sanktionen, die beispielsweise gegen die USA notwendig wären. Ganz wichtig: Die europäische Datenschutzgrundverordnung muss in qualifizierter Form beschlossen werden. Dann gibt es eine Vielzahl von einfach gesetzlichen Regelungen, die an unser digitales Zeitalter angepasst werden müssen. Es gibt auf allen Ebenen Gesetzgebungsbedarf und da sind die Politiker generell, aber insbesondere die Bundesregierung gefordert.
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