Es wird Abend. Eine junge Frau steht am Fenster und schaut in die Dunkelheit. Es ist einer jener Momente, in denen die Gedanken in Bewegung geraten, in denen sie nicht auf etwas gerichtet sind, sondern das Gespräch mit sich selbst suchen. Gleich wird das Telefon klingeln und dann wird sie drei Stunden arbeiten, für 450 Euro. Wir erfahren, was sie über ihre Kunden denkt, über die Taxifahrer, das Bordell, die Nachbarn und es setzt eine Art Wirbelsturm der Gedanken ein, der uns über Hunderte von Seiten führt. Clemens Meyer, der sich mit nur drei Titeln an die Spitze der deutschen Gegenwartsliteratur schrieb, gelingt mit „Im Stein“ ein deutsches Panorama unserer Epoche, das wie ein Monolith in der literarischen Landschaft steht.
Die junge Frau führt uns zu Kunden, Zuhältern, zu Geschäftsleuten, in die Welt der kleinen Leute, zu den Managern, Verkäuferinnen, in das Fernsehen, auf die Straßen des Ostens und des Westens. Das ganze Leben wird verhandelt, vom alltäglichen bis zum bizarren Sex, von der Talkshow bis zum Bundekanzleramt. Meyer beweist, dass der Roman, diese oftmals totgesagte Form literarischen Erzählens, noch gut funktioniert und ziemlich lebendig sein kann. Hier wird eine Welt erschaffen, und das in einem beständigen Strudel aus Reflexion und Erzählung. Unglaublich elegant wechseln Personen und Sujets, schwierigste Übergänge gehen scheinbar mühelos vonstatten. Der erst 37-jährige Clemens Meyer trifft halt immer den Ton seines Personals, den schmerbäuchigen Unternehmer lässt er ebenso aufrichtig erzählen, wie die Kleine auf den hohen Hackenschuhen. Zentrales Motiv bleibt das Geld, dessen Realität alle verformt.
Im Grunde ist dieser Einstieg in den Bewusstseinsstrom, der durch den inneren Resonanzraum der Personen schallt, das älteste Stilmittel der Moderne und deutsche Autoren wie Alfred Döblin, Uwe Johnson oder Hubert Fichte zählten schon zu den Virtuosen in dieser Disziplin. Auch der Blick aus der Halbwelt auf den Zustand der deutschen Gesellschaft nach der Jahrtausendwende ist an sich nicht neu. Großartig ist jedoch die Authentizität dieses immer spürbar fließenden Redestroms. Der Zynismus, der Witz und die Tiefe der Erfahrung, aus der die Menschen hier sprechen, bleiben immer als Nervenbahn spürbar. Das packt einen in dem Maße, in dem das unablässig sich in Bewegung befindliche Etwas des Zeitgeistes formuliert wird.
Ein Buch, in das man an jeder beliebigen Stelle einsteigen kann, überall funktioniert sein Sog, der stets tragisch und sexy zugleich klingt. Ein Buch, dessen Sound eine anhaltende Vibration auslöst. Deshalb war es eine gute Idee, Clemens Meyer während der lit.Cologne (21.3., 19.30 Uhr, Brunosaal) zu einem Werkstattgespräch einzuladen. Christian Schärf wird ihn darüber ausfragen, wie man als Autor die Orientierung beim Schreiben eines derartig komplexen Textgebildes behält.
„Im Stein“ | Clemens Meyer | S. Fischer Verlag. | 560 S. | 22,99 €
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