Ein Bahnhofscafé. Eine Bedienung, die den Kunden ihre Wünsche vom Gesicht ablesen kann, aber den Blick in die Gesichter scheut. Gesichter verraten zuviel. An einem Tisch sitzt ein Mädchen, vor sich leere Tassen, die sie vor dem Abräumen verteidigt. Als das Mädchen das Café verlässt, bleibt ein Ring auf dem Tisch zurück. Die Bedienung nimmt den Ring an sich, verlässt fluchtartig das Café und setzt sich in irgendeinen Zug. In ihrem Kopf malt sie sich die Geschichte des fremden Mädchens aus. Auf ihrer ziellosen Fahrt tauscht sie den Ring wie „Hans im Glück“ gegen immer weitere Gegenstände ein – mal heimlich mit langen Fingern, mal im Dialog mit einer Mitreisenden. Jeder dieser Gegenstände beschwört neue fiktive Schicksale in ihr herauf, aus denen sich mehr und mehr das traurige Geheimnis der Bedienung herauskristallisiert.
Literarische Schnitzeljagd durchs Revier
Der erste Roman von Sarah Meyer-Dietrich ist eine literarische Schnitzeljagd, die geschickt wechselnde Orte des Ruhrgebiets und Alltagsgegenstände vom Kalender bis zum T-Shirt zu einem Geschichtenteppich verknüpft. Dabei könnten einige der Erzählstränge auch für sich stehen; und tatsächlich wurden einzelne Passagen des Romans bereits vorab in Literaturzeitschriften wie dem „Richtungsding“ veröffentlicht. Auf die Frage, ob die einzelnen Erzählstränge von Anfang an in einem gemeinsamen Kontext standen, erläutert die Autorin: „Es gab tatsächlich verschiedene Textfragmente schon, ehe ich die grundsätzliche Idee für den Roman hatte. Die Idee ist im Grunde aus diesen Textfragmenten heraus entstanden. Andere Schicksale habe ich mir erst für den Roman ausgedacht.“
Das Ruhrgebiet ist stets präsent, sei es in typischen Straßenszenen oder in markanten Landmarken wie dem Dortmunder U. „Zum einen ist das Ruhrgebiet die Region, in der ich selbst aufgewachsen bin und immer noch lebe“, erzählt die Autorin, „insofern ist es eine Region, die ich sehr gut kenne. Sie zum Hintergrund meines Romans zu machen war in gewisser Weise also naheliegend.“ Doch dem Ruhrgebiet kommt eine viel größere Rolle zu als die eines bloßen Hintergrundes: „Andererseits haben die Suche der Protagonistin nach einer neuen Identität und die Situation im Ruhrgebiet auch vieles gemeinsam. Beide versuchen sich neu zu erfinden, neue Identitäten aufzubauen –wenn auch aus verschiedenen Gründen –, aus den alten Strukturen und Bildern auszubrechen. Beide testen verschiedene Identitäten aus“, sagt Meyer-Dietrich und liefert mit dem Nachsatz „wenn das Ruhrgebiet sich beispielsweise als Metropole Ruhr ausprobiert“ die Erläuterung. „Beide können sich doch bis zu einem gewissen Grad nicht aus der Vergangenheit lösen – wobei ich beim Ruhrgebiet fest daran glaube, dass wir bereits auf einem guten Weg sind hin zu einem neuen Selbstverständnis.“
Recherche und Erinnerung
Die Verflechtung von Ort und Inhalt der Romanhandlung geht für Sarah Meyer-Dietrich allerdings noch tiefer: „Eine andere Parallele zwischen der Protagonistin und dem Ruhrgebiet sind die Dichte und die quasi rhizomartige Struktur (Anm. d. Red.: ein in sich verwobenes Geflecht ohne klares Zentrum oder Hierarchie). Im Ruhrgebiet liegen die Städte so dicht an dicht und gehen so sehr ineinander über, dass man sie kaum trennen kann – so wie die verschiedenen Biografien, in denen es im Buch geht, schließlich nicht mehr wirklich voneinander zu trennen sind. Und genau wie es im Ruhrgebiet nicht möglich ist, ein Zentrum, einen Kern zu definieren, verliert auch die Protagonistin ein stückweit die eigene Identität als Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen.“
Dabei geht die Autorin auch zurück in die Zeit vor der Jahrtausendwende, beschwört die Erinnerung an Linienführungen des ÖPNV ihrer Kindheit herauf: „Die Verweise in die Vergangenheit sind ja vor allem die Jugenderinnerungen der Protagonistin, die in Gelsenkirchen/Essen angesiedelt sind. Tatsächlich musste ich dafür nicht alte Bahnverbindungen recherchieren, weil ich da auf autobiografische Erinnerungen aufbauen konnte, da ich in Essen und Gelsenkirchen aufgewachsen bin und tatsächlich mit der S9 häufig nach Essen gefahren bin und auch die Strecken mit der 301 und der 302 gut kenne.“
Seelische Tagebrüche
Der Romantitel „Immer muss man mit Stellwerksbränden, Streiks und Tagebrüchen rechnen“ ist eher sperrig. Mit diesem Satz charakterisiert eine der Romanfiguren den Bahnverkehr im Revier – nur wenn man sich trennen, einen einsamen Heimweg antreten muss, kommt die Bahn pünktlich. Ausgewählt hat die Autorin den Titel gemeinsam mit ihrem Verleger: „Die Sperrigkeit ist durchaus nicht ungewollt, weil ich selbst gern Titel und Sätze mag, über die man ein bisschen stolpert. Dass solche Dinge nicht passieren, wenn man nicht wegwill, ist ja eigentlich vor allem für eine der Biografien wichtig, nicht unbedingt zentral für die gesamte Handlung. Entschieden haben wir uns für den Titel, weil er – neben der besagten Sperrigkeit – einen Ruhrgebietsbezug schafft, der aber vor allem auch die aktuelle Lebenswelt im Ruhrgebiet einbezieht – mit den Tagebrüchen haben wir im Bahnverkehr heute ja wirklich alle paar Monate immer noch zu kämpfen. Weil er ein Grundthema des Buches, das Unterwegssein und nicht wirklich ankommen, thematisiert und weil er auch metaphorisch auf die Figuren zutrifft – jede einzelne der Biografien ist von Zwischenfällen, von emotionalen Stellwerksbränden oder seelischen Tagebrüchen geprägt, wenn man so will.“
Die literarische Heimat
Bei so viel Revierbezug ist die Frage erlaubt, ob sich Sarah Meyer-Dietrich selbst als „Ruhrgebietsautorin“ sieht, doch festlegen in dieser Schublade will sie sich nicht: „Ja und nein. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebe hier. Mein Roman ist in einem Ruhrgebietsverlag erschienen und spielt im Ruhrgebiet. Das würde alles für dieses Label sprechen. Andererseits engt das Label vielleicht auch unnötig ein. Wenn ein Roman in Berlin spielt, bezeichnet man ihn ja auch nicht zwangsläufig als Berlinroman. Ich würde mir wünschen, dass man mit der gleichen Selbstverständlichkeit Romane schreiben kann, die hier spielen. Und es ist ja auch ein Roman, der zwar im Ruhrgebiet spielt und – siehe oben – auch starke Bezüge zur Region aufweist, der sich aber gleichzeitig mit Grundthemen beschäftigt, die universell und eben keineswegs aufs Ruhrgebiet beschränkt sind. Und ich werde sicherlich künftig auch Prosa schreiben, die nicht im Ruhrgebiet angesiedelt ist und trotzdem ein stückweit Ruhrgebietsautorin bleiben, weil ich hier eben lebe und schreibe – und das sehr gerne.“
Ähnlich schwer fällt ihr, eine homogene Ruhrgebiets-Literaturszene auszumachen: „Ich weiß gar nicht, ob man so sehr von ‚der‘ Szene hier sprechen kann, weil es letztlich auch verschiedene Literaturszenen im Ruhrgebiet gibt. Sehr stark sind die Krimiszene und auch die Poetry-Slam-Szene, wie ich das so sehe. Und das macht „die Szene“ im Ruhrgebiet, wenn ich sie dann doch in ihrer Gesamtheit betrachte, vielleicht auch gerade aus. Sie ist vielfältig und stark fragmentiert. Und bildet damit auch wieder die gesamte Struktur des Ruhrgebiets ab. Das macht es in gewisser Weise schwierig, weil es eben durchaus streitbar ist, ob man überhaupt pauschal von ‚der Ruhrgebietsliteratur‘ sprechen kann. Es macht das literarische Leben in der Region aber auch spannend. Es gibt unzählige kleine Verlage, literarische Zeitschriften und Institutionen in der Region. Viel ist in Bewegung. Und es macht Spaß, Teil davon zu sein.“
Zechenschreiberin
Und Sarah Meyer-Dietrich ist, obwohl sie dem Studium der Wirtschaftswissenschaften gegenüber der Literaturwissenschaft den Vorzug gegeben hat, ein außergewöhnlich aktiver Teil dieser Bewegung. Ihre Arbeit beschränkt sich bei weitem nicht auf das Schreiben im stillen Kämmerlein, sie leitet Schreibworkshops für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und ist an vielfältigen literarischen Projekten beteiligt. So hat das Essener Kulturzentrum Zeche Carl in ihr eine eigene Schreiberin, wie es sonst an manchen Orten Stadtschreiber gibt. Wie es dazu gekommen ist? „Ich habe durch verschiedene Projekte schon lange immer wieder eng mit der Zeche Carl zusammengearbeitet (über die Literaturzeitschrift Richtungsding, für die ich arbeite, und auch über Workshops mit Jugendlichen, die in Kooperation mit der Zeche Carl liefen). Als ich dann angekündigt habe, dass ich mich selbstständig mache, kam die Idee auf, mich zu CARLs Schreiberin zu machen, die im Rahmen des Projekts ‚Im Anfang war das Wort‘, das die Auf Carl gGmbH bis einschließlich 2018 durchführt, immer wieder Teilprojekte übernimmt: als Bloggerin, als Leiterin der Schülerredaktion ‚junge Wortklauber‘, als Schreiberin in der Schreibambulanz oder Workshopleiterin. Es ist eine schöne Herausforderung, weil ich so sehr vielfältige Aufgaben übernehme, die aber alle immer mit Schreiben und Literatur zu tun haben. Mit Jugendlichen arbeite ich sowieso schon lange und das auch sehr gern – als Werkstatt- und Projektleiterin.“
Ob dieser Hang zur Arbeit mit Jugendlichen auch von ihrer Mutter, der bekannten Kinderbuchautorin Inge Meyer-Dietrich geprägt wurde? Auf die Frage, ob es sie reizen könnte, auch mal ein Kinderbuch zu schreiben, antwortet Sarah Meyer-Dietrich: „Grundsätzlich kann ich mir auf jeden Fall vorstellen, auch mal ein Kinder- oder Jugendbuch zu schreiben. Zumal Kindheit und Jugend einfach sehr spannende Phasen im Leben eines Menschen sind - mit vielen Umbrüchen und der Beschäftigung mit großen Fragen. Und auch, weil für mich als Kind und Jugendliche Literatur eine große Rolle gespielt und viel zum Reichtum meines Lebens in Kindheit und Jugend beigetragen hat. Im Moment interessieren mich literarisch Kindheit und Jugend zwar mehr aus der Warte der Erwachsenenliteratur, aber ausschließen will ich die Möglichkeit definitiv nicht grundsätzlich.“
Sarah Meyer-Dietrich: Immer muss man mit Stellwerksbränden, Streiks und Tagebrüchen rechnen | Henselowsky u. Boschmann | 160 S. | 9,90 €
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